Matthias Friedrich
Svein Jarvoll: Eine Australienreise




In Kämpfen denkt Karl Ove Knausgård darüber nach, wie sich seine Ansichten im Laufe der Zeit verändert haben:

Nie wieder in meinem Leben hatte ich einen so guten Überblick über etwas wie über die Mädchen in meiner Umgebung. Später war ich mir nicht sicher, ob Svein Jarvolls Buch "Eine Australienreise" nun ein gutes oder ein schlechtes Buch war oder ob Hermann Broch ein besserer Autor war als Robert Musil [...].

Im Laufe von Min kamp wird Jarvoll dreimal erwähnt: als Übersetzer von Adam Thorpes polyphonem Roman Ulverton, als ein Schriftsteller, der imstande ist, präzise über das zu sprechen, was er tut, und als der Autor eines seltsamen Romans mit dem Titel "Eine Australienreise". Aber mehr als das gibt es nicht. "Svein Jarvoll" ist ein Name, der eines Tages in einer annotierten Edition von Min kamp auftauchen dürfte. Doch trotz seines Einflusses auf postmoderne norwegische Autoren wie Stig Sæterbakken oder Tor Ulven, die beide ins Englische übersetzt worden sind, ist er lediglich eine Fussnote in einer gestutzten Literaturgeschichte.

"Eine Australienreise" wurde komplett ignoriert, als es 1988 veröffentlicht wurde. Ein Kritiker schrieb über den "stilistischen Furor" des Romans, ein weiterer musste allzu viele Wörterbücher und Lexika konsultieren - war jedoch froh, in einer Passage des Romans, die aus einem einzigen, fortlaufenden Wort, dem makrologos, besteht, ausgerechnet eine Referenz auf den Niffen zu finden, dem Sportverein von Nordstrand (Oslo). Und wie Jarvoll es in einem Interview mit der norwegischen Zeitschrift Vinduet sagte, traf er in Nordnorwegen einmal einen Seemann, der ihm erzählte, er habe "Eine Australienreise" gelesen, dass er eine Art persönlichen Bericht oder eine autobiographische Erzählung erwartet, jedoch nichts davon verstanden habe.

Was den potenziellen Lesern auffällt, wenn sie einen ersten Blick auf den Roman werfen, ist dessen scheinbare Nichtkonformität. Er besteht aus zwei Teilen: Den gule boka (Das Gelbe Buch) und Lonaquemor (dem katalanischen Ausdruck für Die Welle, die stirbt). Diese zwei Teile erweisen sich als höchst verschieden. Der erste erzählt die Geschichte des Mark Stoller, einem norwegischen Reisenden (obwohl sein Name überhaupt nicht norwegisch ist), der in València (Spanien) losfährt und in Australien herauskommt. Zwischendurch besucht er Irland und unternimmt eine lange Zugreise nach Italien, wo er Florenz, Pisa und Brindisi besucht. Der zweite Teil erzählt die Geschichte von Emmi, die ebenfalls auf Reisen ist; aber sie verlässt Australiens Grenzen nicht. Zusammen mit ihrer Freundin Alice kämpft sich Emmi durch Dschungel, wo ihr Vater Buster in einer Hütte wohnt, denn sie möchte ihn besuchen. In der Hütte entdeckt sie eine Biographie eines norwegischen Anthropologen namens Magnus C. Ztlohmul (der einen tatsächlichen Prototypen hat, nämlich den Ethnologen Carl Lumholtz) und liest das Vorwort des Buches, ehe sie sich entscheidet, nach Hause zurückzukehren.

Eine andere Sache, die den potenziellen Lesern auffällt, ist die Schwierigkeit des Romans. Die Prosa ist dicht, es wird auf viele Texte angespielt, und Jarvoll ist ziemlich gnadenlos, wenn es darum geht, neue Wörter zu erfinden, etwa "Australopleust" im ersten Kapitel; dies heisst "jemand, der Australien durchreist", hat aber einen leichten ironischen Anstrich. Der Roman nimmt alles in sich auf von Dantes Commedia und Rabelais' Gargantua und Pantagruel bis hin zu James Joyces Ein Porträt des Künstlers als junger Mann und enthält ebenfalls weniger bekannte Dichter wie den Katalanen Ausiàs March.

Der erste Teil ist in neun Kapitel (oder Episoden) unterteilt; der zweite ist ein einziger, fortlaufender Text. Es gibt keinen strikten Plot, weil das Geschehen auf Zufällen und Launen zu vertrauen scheint. Noch dazu wirken die Charaktere - besonders Mark Stoller und seine dänische Freundin Lone, die ihn auf seinen Reisen von Spanien nach Italien begleitet - bloss menschlich. Tatsächlich sind sie Medien im etymologischen Sinne - Akkumulatoren (linguistischer) Zeichen. Ihre Namen sind nicht willkürlich. Zum Beispiel vergleicht sich Mark mit Ausiàs March und wirft einen näheren Blick auf ein Gedicht, das diese Verse beinhaltet: "A temps he cor d'acer, de carn e fust:/ yo só aquest que·m dich Ausiàs March." (Mein Herz ist wechselweise Eisen, Holz und Stein. Mein erster Name ist Ausiàs, March mein zweiter.) Dieses Gedicht ist auf die Melancholie und auf das Sterben fokussiert, zwei Themen, die Mark Stoller in höchstem Masse beeinflussen: Tatsächlich ist "Eine Australienreise" ein langes Gespräch mit dem Tod und der europäischen Tradition des danse macabre. Trotz seiner Morbidität ist der Roman lustig und komisch; er hat etwas Rabelaisianisches; er beinhaltet sehr viel Skatologie à la Joyce. Er ist experimentell in dem Sinne, dass er versucht, eine Redeweise über den Tod zu skizzieren, die sogenannte Thanatologie, und jeden Text in Betracht zieht, der sich mit Auflösung und Exitus auseinandersetzt. Schon im ersten Kapitel kündigt Mark an, Dantes Commedia "den Boden ausschlagen" zu wollen, was heisst, dass er keine vertikale, symmetrische Welt (wie Dante) entwerfen will, sondern eine horizontale Welt, die in Deleuzes und Guattaris Worten als dissymmetrisch definiert werden könnte: eine Oberfläche, die vorgibt, leer zu sein, jedoch Stück für Stück erodiert und zeigt, dass sie aus mehreren Schichten zusammengesetzt ist. Sie ist eine geologische Landschaft mit einer eigenen Geschichte, aber sie ist auch in dem Sinne arbiträr, dass sie den Blickpunkt des Reisenden neu setzt; er oder sie muss sich auf die sichtbaren Dinge konzentrieren und selbständig die isoliert wirkenden Punkte miteinander verbinden. So ist Mark imstande, eine Reise zu unternehmen, die ihn durch die Landschaft des Todes führt; er selbst wird zu Dante, der auf viele Persönlichkeiten trifft, etwa auf den Maler Buonamico Buffalmacco, der für den Trionfo della Morte in Pisa verantwortlich ist; in einer langen und aufregenden Diskussion mit diesem Mann, der die Reinkarnation des entschwundenen uomo universale zu sein scheint, entwickelt Mark seine Thanatologie und hört Buffalmacco zu, der die Entwicklungen seines (gelegentlich obszönen) Traumlebens umreisst.

Lone, deren Name Mark aus dem katalanischen l'ona, "die Welle", herleitet, ist diejenige Person, die den Stil des Romans repräsentiert. Einige Elemente erscheinen als wellenförmige Wiederholungen: Oft kommt es vor, dass einige Hypotexte, etwa Dantes Gedicht, transformiert und parodiert werden. Dennoch ist Marks Etymologie falsch; tatsächlich ist Lones Name eine Verkürzung der dänischen Abelone, was wiederum eine andere Form für Apollonia ist. Als ein verwandtes Wort des griechischen Gottes der Kunst (Dichtung inklusive) setzt Lones Name den Ton des Romans. "Lone, du, deren Name auf Valencianisch 'Welle' bedeutet, hier werde ich deine Konturen in zehn Wellen andeuten, und die Konturen des Beginns meiner eigenen langer Reise, einer Reise, die auf der Landkarte ein schiefes M zeichnet" - und hier listet Mark diejenigen Länder auf, die er besuchen wird.

"Eine Australienreise" bleibt ein Roman, der sogar in Norwegen ignoriert wird, trotz der Neuauflage, die 2008 in Gyldendals Serie Forfatterens Forfatter (Writer's Writer) veröffentlicht wird. Es ist Mazdak Shafieian, der diese zweite Ausgabe verantwortet und der ein informatives, auch ins Deutsche übersetzte Vorwort geschrieben hat (das in der Mütze, Heft 21, veröffentlicht wurde).

(Dieser Artikel erschien zuerst im Blog The Untranslated, der randvoll ist mit Hinweisen auf interessante Bücher.)

Der Autor:

Matthias Friedrich hat 2012-2015 Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim studiert und studiert seit 2015 Kulturwissenschaft, Interkulturelle Studien und Skandinavische Literatur an der Universität Greifswald. Er ist (zusammen mit Slata Kozakova) Herausgeber der Anthologie "Bildung eines eleganten Schiffbruchs. Gedichte aus dem Ostseeraum" und "Weniger eine Leiche als vielmehr eine Figur. Erzählungen aus dem Ostseeraum". Im Versteck bei Urs Engeler erschien 2018 seine Übersetzung von "Eine Australienreise" von Svein Jarvoll.


Bibliographische Angaben:

Svein Jarvoll
Eine Australienreise
Roman
Aus dem Norwegischen übersetzt von Matthias Friedrich
ISBN 978-3-906050-32-4
21 x 29,4 cm, Klammerheftung, 116 Seiten
Euro 21,- / sFr. 28.-