Michael Donhauser

Fäden




«Wenn ich schlafe, schlafe ich für mich; wenn ich spinne, weiss ich nicht für wen.»

I dans la prairie/prochaine où neigent les fils du travail (Arthur Rimbaud): in der Wiese/der nahen, wo die Fäden der Arbeit schneien: die Nähe als Wiese als Hang: die Fäden, fliegenden Fäden, Spinnweben des Altweibersommers: nach dem Sommer einer verwirkten Kindheit zu Füssen der Grossen Spinne. Nachdem sich ihr Tod zum zwanzigsten Mal gejährt hat: Trauer und Glück und Reste ihres Strickens und Betens, silbern, fliegend in der warmen Luft der späten Versöhnung. Dichtermut, Indianerblut: weit der Himmel und tief und die Wolken blass, weissliche Wischer. Glänzende Wiese, aufsteigende Fäden, ein Schneien, während drinnen das Spinnen ein Beten war: ein Sichdrehen von Tausenden von Spindeln.
Dass, da die Fäden sich lösten, die Industrialisierung begann, nach der Mitte des vergangenen Jahrhunderts, mit dieser dreissigjährigen Verspätung, in jenem Land: doch die Fabrikarbeiterinnen waren Kirchgängerinnen, und der Weg in die Arbeit war als anderer jenem in die Kirche verwandt. Der beschwerliche Weg, der erzählbare Weg: bei Hitze, Regen, Schnee und Kälte, um fünf Uhr in der Frühe, Sommer und Winter, jahraus, jahrein, jahrelang täglich, ewig lang, weit, und abends wieder zurück, zu Fuss, und vielfach auch zur Nachtzeit.
Unser Weg ist fast immer ein nächtlicher gewesen, ein Spaziergang nach dem Abendessen, vom Mühleholz über die Rüfe, dem Sommerflieder, seinem Verblühen entlang und den Birken, den Weiden, dann über die Strasse, beim Zebrastreifen, und durch den Wald, das Stück Wald, Nadelwald, unter den Strassenlampen, von Schein zu Schein, hellhörig, aufhorchend, gefasst: am Ende der minimale Park oder Hain, Lärchen, Fichten, Föhren, ein Kiesweg, eine Sitzbank, ein Abfallkübel. Grillengezirp und Heuduft, Streulicht, unsere Schritte, Fledermausschatten am Asphalt und Gebüsch, die Fabrik im dunkeln, über der Wiese: als Dunkelheit, im Schein einer Lampe. Eine Halle, ein Hof, Fensterreihen, Abflussrohre, die Rohrknie und die Zweistöckigkeit: unter dem Vordach in der Mitte das Leuchten, die Neonröhre. Gesträuch: wir haben gesprochen, in Stücken, gezögert, gelacht. Dann lichthelle Räume, Stützpfeiler, imaginiertes Maschinengewicht und Stühle, gestapelt, Fauteuils: ein Fabrikarbeiterhaus, ein Heimweh, ein Eingang, ein Schuppen, eine Leere, ein Widerschein. Schotter, Stille, die Steigung des Hangs: Lagerstille, Zementplattenboden, doch keine Schreie, keine Hunde, keine Scheinwerfer, kein Gitter. Ein Löschgerätehäuschen, ein Langhaus, eine Mauer, Silos, der Schornstein, Teerplanen, Moosbewuchs, das Sägedach. Verlassene Diesseitigkeit, ausgebleichtes Blau und Bretterholz, Abblätterungen: abgeschlagene Kanten, Risse, Hammerspuren. Das Elektrizitätswerk in Betrieb.

II Die Fabrik als ein Belvedere, zweiflügelig, herrschaftlich, liegt über der Fabrikwiese, den Zufahrten, dem Tal. Die Stillegung als eine Form der Märchenhaftigkeit: doch nichts, was geisterte, keine Feen oder Fäden, keine Stimmen.
Ein leerstehender Stall, ein aufgelassenes Kieswerk, Obstbäume, die seit Jahrzehnten keiner mehr schneidet, ein Schotterplatz: am Rand der Verkabelung, der Vernetzung, der Erreichbarkeit. Nüstern, Geflüster, Lippen, Fäden, Schweigen.
Die Stillegung als Randzonenbildung, nach hundertjähriger Arbeit: Schmerz und Abschied und Wiedersehen.
Der Fleiss der Arbeiterinnen ist so sehr meiner gewesen, dass ich ihre Leben gelebt habe, die vergessenen, die vergangenen, dass ich ihre Wege kenne, der Not, den Nebel und die Glockenschläge, die Eile, die Verzweiflung, das Verzagen.
Dass die Fabrik geöffnet werde, ihre Fenster, Türen, dass die Föhnwärme durch ihre Räume ziehe und die Schneekälte und jenes Gemisch von beiden: dass sie so dann jene sei, einer Vorvergangenheit, bevor sie ihrer Bestimmung übergeben wurde.
Ein Landsitz, ein Ort der Selbstgewahrwerdung, des Aus-dem-Fenster-Schauens, der Übereinstimmung, des Widerstands: ähnlich den mounds, den Grabhügeln der Miami-Indianer für Barnett Newman - dem Grabhügel, Tumegl, für mich, den Gast.
Eine Wiesenfabrik für die Fabrikwiese: dass wir sie sähen, schon grün, und die Sträucher, gelb die Forsythien, den gezausten Ginster, dass wir berührt von einem leichten Wehen das Gezwitscher hörten, der Vögel und das Gleisen vom Zug, das Rauschen, den Verkehr. Mistduft, Güllengeruch.
Manchmal etwas Fresken, ein Stück Wand, ein Türstock, eine Kratzspur und Nägel, Fäden, Reste: keine Flaschenscherben, keine Proviantabfälle, kein Uringestank. Es geht mir nicht um die Verwüstung, es geht mir um die Rückführung in einen Naturzustand als Kunstzustand.
Dass die Fabrik uns die Freiheit wiedergebe, zu sehen: zu sein.

III Cur chi'l dse schlugngescha, il feil scurznescha: wenn der Tag länger wird, wird der Faden kürzer. Das Sprichwort reicht vor die Zeit der Fabrikuhren und Fabrikpfeifen, in jene Vorvergangenheit der Handspinnräder und Tretspinnräder, des gemeinsamen Spinnens und Essens, Erzählens. Doch dass wir uns nicht täuschen! Scha dorm, dormi per me, scha fil nu saja per chi: wenn ich schlafe, schlafe ich für mich; wenn ich spinne, weiss ich nicht, für wen. So hiess es in ebenjener Vorvergangenheit.
Johann Heinrich Pestalozzi schreibt zum Spinnervolk, das sich wohl im Lauf der anfänglichsten Industrialisierung aus dem Volk der Landstreicher und Mittellosen bildete, den Randgängern, den Taugenichtsen, Waisen und Fremden - denn Arbeitslose konnte es zu jener Zeit nicht geben, da die Arbeit noch nicht im heutigen Sinn oder Mass Arbeit war: das spinnervolk, das beym müsziggehen geld verdiente, war jetzt auch von der lieben noth frey, die es vorher, mitten in seiner verwahrlosung, doch immer noch an einen schatten von weisheit band, der nun bei den baumwollrädern gänzlich verschwand. Das heisst, dass vom Müssiggehen, wenn auch mit Not, zu leben war. Das heisst, dass die Not die Müssiggänger an einen Schatten von Weisheit band. Das heisst, dass jener Schatten mit der Industrialisierung als Fleissigmachung auch noch verschwand. Jetzt: das ist als Zeitpunkt das Ende des Müssiggangs im Zeichen der Arbeit. Der Bindung der Existenz an die Arbeit: an das Wirken. Der Austreibung von Welt durch Wirklichkeit: als Wirksamkeit. Doch welcher Schatten von welcher Freiheit ging zuvor mit der lieben Not einher?
Und also galt dann das Sprichwort von dem langen Tag und dem kurzen Faden nicht mehr: die Arbeitszeit in der Fabrik betrug im Sommer wie im Winter zwölf, später elf Stunden, 1908 wurde sie auf zehn Stunden herabgesetzt, bei sechs Arbeitstagen in der Woche. Ferien gab es keine. Doch im Frühjahr, mit der Pflanzzeit, verliessen immer wieder Arbeiterinnen die Fabrik, zur Arbeit auf dem Feld, und das dauerte bis gegen Herbst. So wurden über den Sommer vermehrt ausländische, wandernde Arbeiter in die Fabrik aufgenommen - bis die einheimischen Arbeiterinnen im Herbst ihre Stellen wieder antreten würden. Unter den fremden Fabrikarbeitern befand sich Fabrikgesindel, wie der Pfarrer von Triesen 1897 schreibt: und er beklage, dass er die jüngere Generation oft vor dem Nachäffen fremder Unsitte durch den Umgang mit fremden, unbekannten oder gar übel bekannten Fabrikarbeitern warne - was wohl heisst: zu warnen habe. Doch von welcher Art war die fremde Unsitte, was reizte zum Nachmachen, wie wurde man übel bekannt?
Spinnervolk, Fabrikgesindel, Sommerfäden, Nachmittage, Zigarettenrauch: Schattengesprenkel und Spinnweben, Müssiggang. Jasagungen, Zärtlichkeiten, Armut, Anmut, leise Schreie, sonantisches Flüstern: ich habe ein Spinnrad, das von selbst spinnt, und einen Rocken, der reden kann, ich bin von der Art der Spinne, che fila e fila ord sesez: die spinnt und spinnt und aus sich selbst heraus spinnt. Ich erliege der Verführung, ich gebe nach, ich gehe hinaus, ich lasse den Faden zugunsten der Fäden, lasse sie fliegen, mein Spinnrad schnurrt, während ich schweige: ich sauge das Gift aus den Blumen, das Licht, den kleinen Schatten Weisheit, das Gläschen Wein des Morgens, das Gräschen Zittern im Wind, den Sonnenstrahl Wärme, wenn er die erste Fliege ans Abortfenster treibt.

IV und wirke für meine Seele/das graue Sterbekleid (unbekannte Weberin aus Triesen): die unliebe Not, das verderbliche Wirken, jahraus, jahrein: kein Abendhimmel über den Bergen, keine Wiese nach dem Maschinenlärm, kein Wehen, kein Kerbel, kein Holunderschein: keine Lebenszeiten, keine Jahreszeiten, keine Tagträumerei - doch es gibt keine Vergeblichkeit. Doch die Fabrik ist jetzt stillgelegt.
Doch noch fehlen sie: die drei begleiter einer hundertjährigen ruhe (...), staub, spinngewebe und insektenschalen (Gustav Freytag). Nach der hundertjährigen Arbeit die hundertjährige Ruhe. Die Stillegung der Stillegung. Sie ist wiedergefunden: die Ewigkeit. Es ist eine Weile, ist eine Fabrik, ein Gezwitscher, eine Vergänglichkeit. Die Stillegung ist das Begrüssenswerte. Die letzte Revolution, die radikalste, entsetzlichste, verträumteste. Leere Hallen, die Leere ohne Apostroph, keine Installation: nur Staub, nur Stille, keine Aufführung, keine Ausstellung, keine Lesung, kein Konzert. Kein weiterer Sieg der Arbeitsamkeit. Insektenschalen: gibt es eine innigere Umkehr, ein schöneres Bussgebet? Das Leerstehenlassen als Wiedergutmachung. Keine Umwidmung, keine Verwertbarkeit: ich ersetze die Kunst durch die Stille, die Mutlosigkeit durch die Entmutigung, die Bemängelung durch den Verlust, den Betrug durch das Bild, die Erstarrung durch den Schmerz. Wäre es möglich, ich ersetzte die Drogensucht durch den Wiesenblick: das Taumeln der Dolden, der Ähren, der Gräser. Und raste dann einer auf der Strasse unten vorbei, so hirnrissig wie unverzagt, so wie meist einer vorbeirast, ich ersetzte ihn durch einen Engel, seine Motorheulspur durch ein silbernes Band. Habe ich doch im Glauben an die Unliebsamkeit der Not mein Leben vertan: ach, ihr Fabriklerinnen, und du, meine Fabriklerin oder Fabia. Es gibt das Frühlingshafte, die Wiese schon grün und die Bäume noch kahl, das erste Sprossen, die Knospen, es gibt die Armut, den Reichtum, die Wiederholungen und das Vergebliche, die Verklärungen, die Selbsttäuschungen, die bitteren und die gepflegten, die tröstenden - doch es gibt keinen Trost. Die Not ist genau.
Fliegende Fäden, später Samenflug, sonnenwarme Fabrikmauer, Abendverkehrshimmel: Gasthausgespräche, Besenwischgeräusche, Märzsommersonne, Nachmittagsschatten.


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