Anna Achmatowa







Als ich Ende 1942 in Taschkent nach einem Bauchhöhlentyphus das Krankenhaus verließ, erschien mir aus irgendeinem Grund alles rings als eine Art dramatische Handlung, und ich schrieb «Enuma elisch». Der Erste und der Dritte Akt waren komplett fertig. Es fehlte nur noch der «Prolog», das heißt der Zweite Akt. Er sollte in Versen abgefaßt sein und sich der Heldin des Dramas «Enuma elisch», nämlich X, widmen. Im Stück wurde die Rolle der Somnambula von X selbst gespielt. Sie stieg eine vom Mond beleuchtete, fast senkrechte Wand ihrer Höhle herab – nach irgendwelchen dunklen Wanderungen –, betete zu Gott, ohne aufzuwachen, und legte sich auf das Ziegenfell, das ihr als Lager diente. Der Gast aus der Zukunft erschien unter dem Mondstrahl auf der rußbedeckten Höhlenwand. Ihr erster Dialog ist an einer anderen Stelle aufgezeichnet …

Der Gast aus der Zukunft: Aber du wirst nicht sterben?

X: Es gibt auf Erden keine Kraft, die mich zerstören könnte, bevor ich meinen Kelch getrunken habe, bevor mein Letztes Unheil gekommen ist: weder Beschuß noch Hunger noch der dreimalige Herzinfarkt noch die schwarze Typhusbaracke noch die wiederholten Triumphe des gesellschaftlichen Todes – das alles ist nichts im Vergleich mit dem, was noch kommen wird.

Gast: Fieberst du schon wieder?

X: Nein, eines Tages wirst du von all dem in allen Sprachen lesen.

Gast: Sollte ich dich nicht lieber jetzt gleich töten?

X: Ist ein solches Glück auf dieser Erde denn möglich? Du selbst bist doch nur ein Traumbild.

Gast: Dann sag mir, was du das Letzte Unheil nennst?

Aus: Enuma Elisch. Traum im Traum



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