Daniel Eschkötter






Unreine Akte
Pier Paolo Pasolinis friulanische Gedichte

Pier Paolo Pasolini hat Gedichte geschrieben, schon seit früher Kindheit, fast sein gesamtes Leben lang. 1941, mit Neunzehn, und in den folgenden Jahren verfasste er sie in der Regionalsprache der Region, in der er bei seiner Mutter aufgewachsen war, im Friaulischen, und transponierte damit einen vorwiegend oralen Dialekt aus dem Nordosten Italiens in Verse, als künstliche, durchwirkte Eigensprache.

Pasolini hat seine frühe Lyrik wiedergelesen, wiederholt und überschrieben, durchgestrichen: in Überarbeitungen und Variationen, in der die Sammlung der Gedichte aus den Jahren 1941 bis 1953, La meglio gioventù, die besser Jugent, eine zweite Form annimmt oder bekommt: Seconda forma de «La meglio gioventù». Das Buch, in dem diese Verse stehen, ist «zweimal geschrieben», «ge-» oder «verlebt und wiederbelebt», Körper gegen Körper [«chistu libri scrit dos voltis, / vivùt e rivivùt, cuùrp drenti un cuùrp»], so steht es noch vor der Widmung. Und er hat diesen Gedichten 1973/74 neue italo-friulanische Gedichte beigestellt.

Im Verlag Urs Engeler Editor, einem der interessantesten, der wichtigsten Verlage für Lyrik, für dichte Prosa, für Theorie und Praxis der Lektüre, Erscheinungsort etwa der récits Maurice Blanchots, der versförmigen fachsprachen-Enzyklopädie von Ulf Stolterfoht, und, gerade, von Ulrich Schlotmanns singulärem Männlichkeitsgewaltsprachenmassiv Die Freuden der Jagd, in diesem Verlag ist eine Auswahl der friulanischen Gedichte Pasolinis unter dem Titel der späten Sammlung, Tetro entusiasmo / Dunckler Enthusiasmo, nun erschienen. Es ist ein unwahrscheinliches Buch, ein, wie noch jedes Buch von Urs Engeler, schönes Buch, dezent gesetzt aus der Garamond, links der Text aus den 40er Jahren, auf der ungeraden Seite rechts gegenüber jener aus den 70ern. Wo nur einer von beiden existiert, bleibt die andere Seite frei. Links und oben jeweils die deutsche Übertragung, darunter, rechts eingerückt und ungefähr zwei bis drei Punkte kleiner, das Original.

Die Gedichte sind in ihren Überarbeitungen durch Pasolinis Leben, durch sein Werk, auch sein filmisches hindurchgegangen, aber es hat sich nicht merklich etwas abgelagert an ihnen, was sie nun als kinematographisch zu charakterisieren erlauben würde. In ihren Lenkungen und Fügungen, von Blicken und Stimmen, von Geräuschen und Tonalitäten, von Topoi und materiellen Orten weisen alle Gedichte, auch die frühen, Züge auf, die mit den optisch-akustischen Situationen der in ihrer zeitlichen Nähe entstehenden neorealistischen Filmen genauso kommunizieren wie mit dem Neorealismo der sozialen Mehrsprachigkeit von Dantes Vita nova und Comedia. Man kann in ihnen freilich finden, was Pasolinis Romane, theoretische Texte, Filme umtreibt, als Motive, auch als Strukturen: eine auf Realien stossende Mythopoetik; Leben, Sprechen und Heiligkeit der infamen Menschen («im Angesicht der Heiligkeit / dieser Menschen [der Arbeiter, der Jungen]» heisst es in einem späten Gedicht); Freilegungen von Faschismuslinien - Züge, die sich auch zu seinem idiosynkratischen Kommunismus, einem «marxistischen Humanismus» addieren. Aufgehen wollen die Gedichte in diesem Finden nur selten.

Die dem zweifachen Buch von der neuen Jugend vorausgehende doppelte Widmung macht aus ihm gleich eines für alle und keinen: Der «Quell von Wasser aus meinem Dorf / [...] / Quell ländlicher Liebe», wie er den Gedichten an Casarsa (Teil I. von La meglio gioventù) vorangestellt ist, wird in der Überarbeitung gleich mehrfach negiert, umgeschrieben zum «Quell von Wasser aus einem Dorf, nicht meinem / [...] / Quell von Liebe für Niemanden». Dieses Versagen und Versiegen setzt die Tonart für die Wiederholungen; Wendungen der Negation, des «keiner» oder «Nicht», «nissùn» und «nuja», strukturieren sie. Pasolinis poetische negative Dialektik entsteht freilich nur im Widerspiel, im Zusammenlesen dieser mitunter plakativen Konfrontation, die etwa eine Industrie-, eine Kloakenlandschaft des Gedichts eröffnet: Wo der «Maulbeerstrauch» stand (Regen über Grenzen), sind «Neubauhäuser[ ] und Asphalt» (Regen weit von allem); «Süsser Duft Polenta» (Ins Dorf zurück) wird, auf der Gegenseite, «gelöscht von der Geschichte, / der verfluchten Geschichte, / die ich nicht will, sie ist nicht mein». Skizzieren die frühen Gedichte - auch vor dem Hintergrund bukolischer, idyllischer Motive - oft noch eine ambivalente Bewegung des Zu-auf, wenn auch einen unverfügbaren Ort, werden in den Überarbeitungen Figuren des Rückzugs und Entzugs - auch durchaus jenes Gottes, vor allem aber des Menschlichen - prägend. - «Ach Kind, ich hab mein Herz / in einem weissen Weiler im Friaul.» Demgegenüber: «Menschlichkeit kam Dir abhanden, / mir nur dieses Land.» (Romancerillo).

Die Gedichte ringen 1973/74 mit der Möglichkeit einer politischen Eschatologie; sie stellen dabei immer noch Fragen eines gemeinen Kommunisten, Domande di un comunista comune, so der Titel eines Gedichts aus dem Duncklen Enthusiasmo. Es sind rhetorische Fragen in analytischen Gedichte, die auf die sprachliche Fassung des Sozialen, Politischen, der Geschichte zielen. Das Italienische, von Pasolini gefasst als Sprache der Bourgeoisie einerseits wie als technisiert-normalisierte Sprache anderseits, besitzt nach einem sprachtheoretischen Essay Pasolinis in Empirismo eretico, der die Sprachpolitiken & -poetiken vor allem der 50er Jahre kartographiert, eine «gewaltige Zentrifugalkraft». Dieser zu entkommen ist Kern seiner Sprachpoetik der Schichtungen und Mischungen, deren Agent etwa die freie indirekte Rede ist, und nicht zuletzt der sprachpolitische Einsatz insbesondere auch seiner friulanischen Gedichte.

Christian Filips, ein junger Lyriker, übersetzt diese gleitend, nicht exakt: Er löst sich von den einfachen Kadenzen und Reimstrukturen, die das Friulanische Pasolini an die Hand gab, setzt schroff tonale und sprachgeschichtliche Differenzen, wo bei Pasolini mitunter keine sind, etwa zwischen früher Fassung und später Überarbeitung. Er stellt damit aber auch Sprachschichten in einem Gedichtzusammenhang aus, überakzentuiert sie, legt das Vor-und-Zurücklesen nahe. In der Selbstdarstellung des Übersetzers, die, am Ende des Buches, ganz gemäss der Dualpräsentation und Wiederholungsstruktur Pasolinis Autopresentazione dell’Äô autore folgt, fächert Filips, in zumindest nicht gänzlich absurder Unbescheidenheit Richtung und Repertoire seiner Übertragungen auf: «vokalgeleitetes Hochdeutsch, das mitunter vielleicht an Hofmannsthal oder Trakl erinnert und den hohen Ton des Decadentismo gemahnt», «die flüchtige Mündlichkeit von Flüchen, Interjektionen, Ellipsen, Slang», «die mystische Innigkeit des späten Mittelhochdeutsch», der «bürgerliche Ton des unterschwellig sexualisierten Kunstlieds des 19. Jahrhunderts», «eine soziologisch-marxistische Fachsprache», das «prophetische Deutsch der Bibelübersetzung Martin Luthers»: Auch ein Sendbrief vom Dolmetschen. Man muss ihm darin nicht folgen, auch nicht seiner Bresche in die Gegenwart, die er für Pasolini als Propheten eines Ökonomisch-Sozialen, das da kommen mag, im Nachwort schlagen will, um seine grosse Leistung zu erkennen. Pasolinis friaulische Gedichte fallen, auch dies ein gefährlicher Topos, gewiss, aus der Zeit oder vielmehr den Zeiten: sie sind, gerade auch in Filips’Äô Übertragung, ein Archiv, in dem Längst- und jünger Vergangenes - Redeweisen, Lebensformen, Land & Sprache als Subjekt und Material der Geschichte - zusammenschiessen können. Die Atti impuri, die einem von Pasolinis ersten langen Prosatexten aus der friulanischen Zeit den Titel geben, sind nicht nur die unreinen, unkeuschen (homosexuellen) Handlungen, sie bezeichnen poetologisch eben auch die Sprachtaten und Sprechakte, aus denen sich dieses Archiv formiert.


Aus: CARGO Film/Medien/Kultur 04, Dezember 2009