Editorial vom 29. Oktober 2000

Sphinx von Pontresina



«Was ist ein Berg? Um diese Frage entspannt begrübeln zu können, um sie zu beantworten, eigentlich aber, sie zu bedichten, ihr Echos abzulauschen, die weit über den flachlandigen Horizont des Fragenden reichen, gibt es nur einen möglichen Ort und nur eine, die dafür zuständig ist: die Sphinx von Pontresina.» Schreibt Guido Graf in der Basler Zeitung vom 9. September 2000. Er muß es wissen, Guido Graf ist selbst ein Fragender aus dem Flachland, ebenso wie Simonetta Balzarini aus Baden und Markus Steffen aus Wohlen, die wie viele andere, auf meine Einladung hin, ihre Fragen an die Sphinx von Pontresina adressiert hatten. «Dort im Oberengadin weilte sie nur vorübergehend, eine Woche lang im Rahmen des vor Urs Engeler kuratierten Literaturprogramms im «Fest der Künste» im schönen Grandhotel Kronenhof, mit Blick auf Piz Palü und Biz Bernina. In grosen Höhen will die Weisheit wachsen und die der Sphinx längst. Die rhythmischen Katarakte, die zu uns aus ihrem vorübergehenden luxuriösen Exil stürzen, umfassen uns mitten im verfeinerten Leben wie eine spielerische Sprachlust, die sonst nur Verwesung kennt. Den Thebanern hat die Sphinx der griechischen Mythologie ein Rätsel aufgegeben, das niemand zu lösen wusste. Die Sphinx hat jeden, der ihre Frage nicht beantworten konnte, erwürgt und verschlungen. Sie selbst ging erst an Ödipus zugrunde, der ihr Menschenrätsel leicht zu lösen wusste. Ihre Aura von Angst und Schrecken hatte die Phinx in Pontresina allerdings abgelegt. In Person der Basler Schriftstellerin Birgit Kempker sprach sie die Einladung aus, ihr Fragen zu stellen. In grossen Höhen, während einer Woche grandhotelgedämpfter Muse, versorgt mit erlesenen Speisen und Abwechslung vom Besten der Schweizer Gegenwartskunst, verführt von Heinz Hollogers Musik, vom Tanztheater der Compagnie MOLTeNI aus Lausanne oder den stillen Wegen des Gehkünstlers Hamish Fulton - während dieser Tage hatte die Spinx die Aufgabe, Antworten zu finden. Versprochen hatte sie Lebenslösungen. Wie denn aber Fragen wie Warum spricht mein Vater nicht mit mir? oder Wenn zu kommen mein Wille war, wie könnte ich je wieder gehen? von der Sphinx schier unvermeidlich Ödipusantworten zu verlangen schienen, hat Birgit Kempker doch überrascht. Einen Teil der Fragen und die zugehörigen Antworten las Birgit Kempker im Salon Bleu des Kronenhof. Wer nun allerdings Kummerkastenton erwartet hatte, sah sich getäuscht. Stattdessen setzte eine konzentrierte Dekonstruktion der jeweiligen Frage ein, die Spinx zeigte sich resonanzbegabt. Tanzbare Meditationen, buchstabile Schlingen und Schleifen mäandern durch das hohe Tal, Kempkers Antwortkaskaden sind dazu angetan, das Leben der Fragenden zu lösen, ein- und ab- und aufzulösen. Dass sie sich die Fragen auch selbst stellt, weniger mit Wissen als mit dem virtuosen Zweifel der Weisheit zu reagieren versteht, macht das Berückende und Bestürzende zugleich in den Angeboten der Kempkersphinx aus.»

Dieses Angebot besteht auch weiterhin: Die Sphinx von Pontresina, gegenwärtig in Kleinhüningen, beantwortet Ihre Fragen, die Sie bitte richten wollen an: sphinx@engeler.de