Franz Josef Czernin

Die Metapher. Die Transsubstantiation (Auszug)




Doch immerhin, so fällt mir jetzt ein,
ist es möglich,
dass ein Gedicht tatsächlich eine Speise ist
und dann auch eine Speise ein Gedicht:
es können ja etwa Buchstaben gebacken werden und nebeneinandergelegt,
so dass das Ergebnis ein Gedicht wäre,
das zugleich ein Brot ist,
wenn auch nicht ein (all)tägliches.
In diesem Fall könnten
tatsächlich sowohl all die vertrauten Bedingungen dafür erfüllt sein,
dass etwas ein Gedicht ist,
als auch all die vertrauten Bedingungen dafür,
dass es eine Speise ist.

Ja, das ist möglich,
doch ist es dann,
– anders als vorher angenommen –
nicht der Fall,
dass die Bedeutung oder der Sinn des Gedichtes
eine Speise ist,
noch ist es dann der Fall,
dass die Speise deshalb ein Gedicht ist,
weil sie eine Speise ist.
Denn der Sinn oder die Bedeutung des Gedichtes
müssen dann keinen Anteil daran haben,
dass das Gedicht eine Speise ist;
das Gedicht müsste sich dann nicht auf eine Speise beziehen,
noch müsste es dann eine Speise darstellen;
und dass eine Speise wohlschmeckend und köstlich ist,
das hätte dann keinen Anteil daran,
dass die Speise ein Gedicht ist;
die Speise müsste keinen bestimmten Geschmack haben,
denn sie müsste nicht gegessen werden,
um ein Gedicht zu sein.
Das Gedicht wäre dann im buchstäblichen und eigentlichen Sinn eine Speise,
die Speise im eigentlichen und buchstäblichen Sinn ein Gedicht;
in diesem allzu einfachen,
einigermaßen geheimnislosen Fall aber,
ist das, was hier, so leichtfertig oder gutgläubig,
Geheimnis der Poesie genannt wird,
nicht oder nur am Rande berührt.


Franz Josef Czernin in ZdZ 22



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