Sybille Cramer

Sekretär der Luftsprünge
Edward E. Cummings in einer zweisprachigen Auswahl



Süddeutsche Zeitung, 20. November 2002

Er hat dem Gedicht seine alten Trachten vom Leib gerissen und unter Knittelvers, Elegie, Ode, Volksliedzeile die Materialschätze der Sprache ans Licht befördert. Edward Estlin Cummings ist die Portalfigur des literarischen Experiments in Amerika. Er entdeckte die vom Metrum gezähmte Kernkraft der Wörter, ihre der metaphorischen Rede geopferten Ausdrucksenergien, die Reichtümer ihrer rhythmischen Musik. Wo Schiller noch den Erdkreis schulterte, um die Glocke in die Welt zu setzen, ist Cummings einfach nur der Sekretär der Wörter, denen er die Initiative überlässt. Ihre Luftsprünge tupft er aufs Papier, die Buchstaben des Worts Glocken: text-indent

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Der Vierzeilerfaden, ist der Refrain eines 1935 entstandenen Gedichts, das dem muskulösen Schmiedehandwerk Schillers den mobilen Äther seiner Klangimpulse entgegensetzt. Unter dem Schwungmantel ihres Geläuts versammelt er einen wirbelnden Menschenschwarm. Das Menschheitspathos wird durch ein signifikantes Makrozeichen ersetzt, dessen Identität der Sinnbildungsvorgang nicht allein trägt: das Buchstabenbild stützt ihn. Die komplementäre Tierstudie «un(bee)mo» aus den «95 Poems» von 1958 übersetzt die Regungslosigkeit einer schlafenden Biene in einen Gedichtkörper mit dem Auf- und Abgesang als abgehängtem Kopf und Hinterteil und dem bauchig gedrungenen, eng verklammerten Versleib im Zentrum des Gedichts. Allerdings beschränkt sich Cummings, wenn er mit den Lettern malt, auf die schlichte Wiedergabe des Objekts. Ein hoher Preis, der nicht allein dem Experiment geschuldet ist.
«Picturepoems» taufte er seine Figurengedichte, die seine Affinität zum Bild verraten. Cummings hat neben der Dichtung ein umfangreiches malerisches Werk hinterlassen, als er 1962 starb. Sein künstlerisches Damaskus erlebte der Sohn eines unitarischen Geistlichen und Harvardprofessors als Neunzehnjähriger in der Bostoner Armory Show 1913, als er Brancusis und Duchamps’ Moderne kennen lernte; später folgten die amerikanischen Futuristen. Das waren die Geburtsstunden der experimentellen Dichtung in Amerika, die von den Black Mountain Poets um Charles Olson weiterentwickelt wurde.
Der metrisch reichen, aber rhythmisch armen Gedichtsprache, die er vorfand, begegnet er mit typographisch vielgestaltigen Feldkompositionen in auffällig naturnahen, die Wortteilchen zerstäubenden Rhythmen, rieselnd und regnend, zitternd, flutend oder tumultuarisch. Das Verb wird zum Ausgangspunkt des Beschleunigungsexperiments und ist auf Cummings’ Geschwindigkeitsskala der Gegenpol zur Statik des Nomens.
Sein poetisches Tonstudio stellt den Übersetzer vor Probleme, die jede einzelne Lösung als Bravourstück erscheinen lässt. Mirko Bonnés Querschnitt von Gedichten aus den Jahren zwischen 1923 und 1962 ergänzt Eva Hesses immer wieder neu aufgelegte und jüngst Lars Vollerts Auswahlbände bei Langewiesche-Brandt. Bei Bonné treten die experimentellen Texte hinter den traditionellen, strophisch gebundenen freien Versen zurück. Vor allem aber bezeugt der Band die lebenslange Auseinandersetzung des Dynamikers ausgerechnet mit der Formgrammatik des Sonetts, die den poetischen Fortgang an Wiederholungen bindet. Wo Cummings’ Wörterwelt ernstlich auf Sinn aus ist, lauert um die Ecke der Unsinn, der Jux, die Albernheit («why don't be silly»). Oder aber der Weg vom Ding zum Wort ist weit. Zweifelsfrei schließt das Wort das Ding nicht mehr auf. Wo dieser Wirklichkeitsvorbehalt fehlt, wo die Versrede simpel wird, ist das Nagen des Zahns der Zeit förmlich hörbar.



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