Peter Waterhouse

Cogito




Rede anläßlich der Verleihung des Hermann Hesse Preises an die Zeitschrift Verwendung


«Wissen Sie, was mein Verhängnis ist? Passen Sie gut auf! All die herzigen Leute, die glauben, mich herumkommandieren und kritisieren zu dürfen, sind fanatische Anhänger von Hermann Hesse. Sie vertrauen mir nicht. Für sie gibt es nur ein Entweder-Oder: "Entweder du schreibst wie Hesse oder du bist und bleibst ein Versager." So extremistisch beurteilen sie mich. Sie haben kein Vertrauen in meine Arbeit. Und das ist der Grund, weshalb ich in der Anstalt gelandet bin. - Mir hat halt immer der Heiligenschein gefehlt. Nur mit ihm kann man in der Literatur arrivieren. Irgendein Nimbus von Heroismus, von Duldertum und dergleichen, und schon ist die Leiter zum Erfolg da ... Mich sieht man eben unbarmherzig, wie ich bin. Deshalb nimmt mich niemand ganz ernst.»
Ich kenne, da ich diese Preisrede aufzusetzen beginne, nicht die Begründung der Jury für die Vergabe des heutigen Preises an die Literaturzeitschrift Verwendung, so spreche ich eine Vermutung und spreche mit einem Wort Robert Walsers auch gleich ein Lob aus: Die Jury hat ein Vertrauen in diese Arbeit. Vertrauen, hier von Robert Walser am 27. Juni 1937 zu Carl Seelig gesagt, auf der Rückreise von einer jener erschöpfenden Wanderungen, ist ein großes Wort, bedeutet es ja einen dritten Weg zwischen dem in der Anstalt Landen und der Leiter zum Erfolg, die, im Fall Hesses neun Jahre später sogar bis zum Nobelpreis führte. Ist aber das nicht der immer mitgesprochene Wunsch an den Leser: Vertrauen zu haben? Statt des Entweder-Oder, statt des Jawohl, richtig und Nein, Irrtum, statt der Einteilungen enthält Literatur zuweilen ein bloßes Wünschen oder kommt sogar als Fee und spricht: ich höre das Wünschen, vertrau.
Die zu preisende Jury des heutigen Tages, worauf hätte sie vertraut bei der Vergabe des Hermann Hesse Preises an die Literaturzeitschrift Verwendung und ihre Herausgeber? Wohl nur einem einfachen Satz wie: Mir hat halt immer der Heiligenschein gefehlt ... irgendein Nimbus von Heroismus. Wir sind mit diesem Satz sehr nah der Sprache der in Berlin Weißensee, in der Herbert-Baum-Straße, einer stillen Baumallee, die zum jüdischen Friedhof gelangt, herausgegebenen, und nicht nur herausgegebenen, sondern auch geschriebenen, genauer gesagt auf Durchschlagpapier abgeschriebenen, also beinahe mimetisch vervielfältigten Verwendung. Wenn der Heiligenschein fehlt, dann..., wenn der Schein fehlt, dann..., wenn, mit einem ganz anderen Wort, das Dissidentische fehlt, dann... entsteht Sprache, und ich hebe dieses Wort Sprache deutlich ab von dem Wort Opposition. Opposition ist eine Art Heiligenschein. Suchen Sie beides nicht in der Zeitschrift Verwendung.
Sehr nahe der sprachlichen Disposition des in Berlin Weißensee, in der Herbert-Baum-Straße, einer stillen Baumallee, die zum jüdischen Friedhof gelangt, herausgegebenen... - aber jetzt wähle ich das Wort Garten. "Sie jagen einem Phantom hinterher", dieser Satz gehört zu der von Egmont Hesse geschriebenen Gründungsgeschichte der Zeitschrift, ich übertrage den Satz in die Form: "Sie jagen in einem Garten umher", was die Herausgeber vielleicht nicht wie ich sehen werden. Doch meine zwei aus der Gründungsgeschichte gewählten Sätze lauten: "ob der funke blühen wird und in welcher höhe früchte zu ernten sind wird sich zeigen müssen." Und der zweite Satz: "sie jagen einem phantom hinterher" hat mir hoffentlich zum letztenmal der verkäufer in einem schreibwarenladen gesagt, als ich nach büroklammern fragte." Das Blühen und die Früchte, wo sind wir mit diesen Worten? Wie blühen die Blumen? Oder was wissen die Gärten und die Samen oder Seme, das der Schreibwarenhändler nicht wußte? Blühen die Blumen gegen etwas? Nein, sie blühen nicht gegen etwas. Wenn sie etwas wissen, sagen sie es wohl? Nein, sie sagen nichts. Ein Garten ist: ohne Legitimation; dabei aber landschaftlich.
Die Klandestinität, von der hier zu sprechen ist, ist nicht gegen jemanden oder etwas gerichtet, sondern auf etwas gerichtet. Wie wenn eine Mohnblume blüht, daß wir sie sehen,nicht ein Geheimnis, etwas Verborgenes, sondern, sagen wir, das rote Wissen der Landschaft, tief unter dem blauen Wissen am hellen Tag. Das rote Wissen oder das rote Denken - in seinem Namen ging lang und weit und woanders Walser, und Carl Seelig berichtete von Walser und der Landschaft, Walser und dem Wetter, den Wegen, den Gasthäusern, den Speisen, den umliegenden Dörfem. Auf dieses rote Denken will ich in dieser Rede auf die Zeischrift Verwendung vertrauen, aber werden Sie, die Zuhörenden, das Vertrauen teilen? Ich gebe Ihnen also mein einfachstes Beispiel, vom 23. Juli 1950, Seelig und Walser waren zu einer Wanderung verabredet, versäumten einander, spät treffen sie endlich zusammen, und Seelig schreibt: "Ich merke an der unwirschen Art, in der er mich grüßt (beim Handgeben rückt er einen Meter von mir weg, als sei ich ein Stachelschwein), daß er verstimmt ist. Er kann nicht verstehen, daß wir uns nicht getroffen haben. Er sei doch Punkt acht Uhr auf der Station Herisau gewesen, aber nach einigen Minuten nach Gossau weitermarschiert, in der Meinung, man habe ihn über den Treffpunkt falsch orientiert. Von Gossau sei er dann wieder zur Anstalt zurückgezottelt und habe den Tag als verpfuscht abgeschrieben. Ich: "Ich bin mit dem gleichen Zug wie immer eingetroffen. Aber er hatte eine Viertelstunde Verspätung." Robert, völlig verblüfft: "So habe ich also doch zu wenig gewartet?" Ich nicke und schlage ihm vor - es ist inzwischen 10 1/2 Uhr geworden -, daß wir gemütlich ins Dorf bummeln und dort essen. Aber er will davon nichts wissen. Er möchte aus Herisau heraus - nach Schwellbrunn. All right." Eine Geschichte der Verstimmung, aber es geht mir jetzt nicht um die Geschichte, sondern um dieses letzte, mich noch aufmerksamer machende Wort "all right". In den Schweizer Bergen, nicht weit von der französischen Sprache, zwei Schweizer miteinander, ein Konflikt, der sich in den Vordergrund schiebt, und dann dieses Wort in der weit abseits liegenden Fremdsprache: all right. Das ist ein Schritt zur Seite, ein Schritt zu den Feldrandblumen und in die Nicht-Opposition; eine provinzielle, a-nationale Situation. Was ich sagen will: das Wort hebt die plötzlich im Konflikt so stark gewordene Identität der beiden Sprecher wieder auf; A contra B, und da kommt ein anderes, ein außerhalb der Linearität liegendes sprachliches Wesen hinzu, sozusagen ein Fremder kommt, ein englischer Tourist, man erkennt ihn sofort. Gelobt sei der Tourismus! Um diesen Engländer geht es mir bei der Zeitschrift Verwendung. Bert Papenfuß-Gorek ist ein solcher Engländer, man erkennt es sofort. Er stellt sich zu zwei Schweizern und sagt dann:

aufblick aus dem augenblick

verwendung, schwund, hingabe, heidenspaß
lenkung, verrenkung, hexenschuß, ausvorbei
vorgefühl, vorzeit, obhut, keine zeit
kein zeitgefühl, kein feingeschmack

schund im nu zur ruh in verendung
sticks, stones, bottles, posaunen
ein glas, das fern kirre klirrt
das ist es, merlin, nicht mal das

Oder ein anderes Mal, während eines Spazierganges, sagt er plötzlich:

flüssigkeit und fäulnis in der militanten landwirtschaft

unter der scholle, der ich aufsitz; der untergrund, dem ich gehöre
unter der erdoberfläche - stehende und fließende gewässer
der grundwasserspiegel - ein unterirdisches meer
das in fluß kommt, sobald der ton sich neigt

mangels fäulnis würde der pflug sich verstopfen
die egge dicke matratzen über den acker schleifen
an ein unterbringen der saat wäre nicht zu denken
& der wunderbare kohlenstoff ginge nicht im kreis

Wenn ich vom Garten sprach und Egmont Hesse in seiner Geschichte vom Blühen und den Früchten, sogar vom Wald, dann dachten wir an eine Landschaft der sticks, stones, bottles, posaunen. Merlin, der im Gedicht angesprochene, der in der Vita Merlini beschriebene, trägt die Züge eines Waldmenschen oder Waldfremdlings; dieser Wald erweitert sich auch in der Verwendung, in einigen ihrer glücklichsten Beiträge. Klandestinität oder Gartengespräche oder Heiligenscheinlosigkeit oder Disposition sind lauter Waldereignisse oder Gestrüpp. Hier blüht also, zwischen dem Heiligenschein und den Anstalten, das Gestrüpp. Oder ersetzen Sie dieses Wort Gestrüpp durch die Worte des Gedichts, ersetzen Sie es durch stehende und fließende Gewässer oder ein unterirdisches Meer oder durch die nicht unterzubringende Saat, Samen, Seme, Semantik, oder durch den Kohlenstoff, den wunderbaren, der nicht im Kreis geht. Aber das "all right" des Engländers, in den Schweizer Bergen oder Alpen gesprochen, muß ich noch genauer finden.
Zwei wieder anderen Schweizern ruft Papenfuß zu:

wer sind diese ugligen globken/sinds
: die pflasterdaecher die prasseln auf den schrott
: die zerbrecher die atmen an meine luken
: die fasern die tanzen auf schuppigem schammott
: die gesichter jene die aus den windungen lugen
wer sind diese ugligen globken/bist dus

zwischen trost & trotz

Da gehen zwei Schweizer, und Bert Papenfuß sagt:

diese beiden gehen unfernuenftig barfuss
sind nakkt & freibesonnenschienen einer wie sie
ihrem untergang entgegengehenden untersonne

du siehst ihn sie entschlossen etwa fragen
hm nikkst du diesen raum & zeitgenossen
zu lass dich die schienenschritte anschweigen

sie trennen sich um besser gehen zu koennen
getrennt miteinander um beweglicher zu sein
beweglicher zu beginn des lokkenden laufens

wie ein loser fer stand schwimmt der ab stand
der seit je gewesenen eisenbahnempfindungsschwellen
dadurch wird die merkwuerdigkeitserscheinung sichtbar

darin die tauchschrift: entgeht auch dies fergessen

Undsofort. Da gehen zwei, und Gorek sagt ihnen:

ich such die kreuts & die kwehr
kreutsdeutsch treff ich einen
gruess ich ihn kwehrdeutsch
auf wiedersehen faterland
ich such das meuterland

Dieses Meuterland korrigiere ich ein wenig und nenne es Mutterland; ich denke, diese Gedichte fordem zu solchem Umgang auf. Mutterland, dieses Wort antwortet mir auf die Frage nach der Disposition oder Nicht-Opposition. Sprache, jetzt ziehe ich einen raschen Schluß quer durch die Verwendung, Sprache in der Zeitschrift Verwendung ist MutterSprache, und in einer Muttersprache ist kein Vaterland zu besprechen. Die Kleinschreibung und die Lautschreibung in der Verwendung bilden ebenfalls Muttersprache oder Regionsprache, anstatt Landessprache. Die Klandestinität, von der die Rede war, sie ist, denke ich, kein Verbergen, sondern ein Seinlassen der Sprache, sie ist Sprache in ihrem Recht, der Sprache ihren Raum Gewähren, den Raum des Anderen öffnen. Klandestinität = Muttersprache. Als die Verwendung gegründet wurde, war auch ein anderer Name im Gespräch: Material; ich lese in dem Wort das Materiale, Maternale, Mütterliche. Ich lese Buchstabensprache. Ich finde Buchstabensprache auch in einem der berühmtesten Sätze unseres Denkens; René Descartes "cogito ergo sum", scheinbar weit, spricht in seiner Fremdsprachigkeit, in seinen fremdsprachigen Buchstaben das ganz Andere an. Der lateinische Satz von Descartes, aber er ist eine Übersetzung aus dem Französischen, wo es hieß , «je pense, donc je suis», der lateinische Satz besagt keineswegs auf Deutsch: Ich denke also bin ich. Vielmehr kehrt das Lateinische einen wichtigen, einen muttersprachlichen Buchstaben oder, vertrackt, in einer Übersetzung erst, sein Anderes hervor, den Buchstaben R. Ergo, so lautet das Wort, aber nicht ego. Nicht: cogito, ego sum, sondern: cogito ergo sum. In dieser Basis des Gedanklichen, aber übersetzt, lebt also das Semiotische, Glühende.
Der Buchstabe R transfiguriert das Wort ego, gibt ihm ein Flimmern. Was ist mit dem Flimmern gewonnen? Jetzt ist die Antwort sehr einfach. Denn das Flimmern stört die Identität zugunsten von Gestalt. Was ich längst sagen möchte: ich dachte, der Versuch der Verwendung, der dort Publizierenden, ist es, Identität zugunsten von Gestalt, Form?, aufzulösen, und in einigen wichtigen Augenblicken gelingt das. An diesem Flimmerbild sind auch die zahlreichen Beilagen, bildnerischen Arbeiten und Unikate beteiligt, Gegenteil der Lineariät. Und das sanfte Flimmern wird auch aus dem Seitenbild lebendig - die Zeitschrift ist auf fast durchsichtige Seiten, auf Durchschlagpapier geschrieben, der einzelne Buchstabe behauptet sich nicht absolut, sondern läßt seine Umgebung und seinen Hintergrund zu, daß Nicht-Buchstäbliche flimmert mit, wird mitübersetzt. Die Textseiten sind fast morphogenetisch, da sehe ich Ansätze zu einer Morphologie. In solcher Sprache werden Morpheme wichtig, auf diaphanem Papier. Die Buchstaben sind beinahe epiphan. Wir sind hier buchstäblich auch bei Morpheus (der durch einen Buchstaben von Orpheus unterschiedene), bei Morpheus, dem Gott der Träume, der den Schlafenden nachts in menschlicher Gestalt erscheint, Morpheus, dem Sohn von Hypnos. Und wenn ich diese durchscheinenden Seiten der Verwendung sehe und bedenke, dann finde ich die Verweigerung des Pathos, des Leidens, und die Bestärkung des Hypnos, in den Händen Mohnblumen, die Blüten des roten Denkens, die Feldrandblumen, Hypnos, der Vater des diaphanen Papiers, des Traumpapiers, Mangelpapiers. Nicht Papierseiten der Verwendung, sondern Papierseiden. Aber jetzt habe ich, wie Sie schon bemerkt haben, nicht bloß beschrieben, sondern Ansprüche mitformuliert, auch meine eigenen Ansprüche an eine fortzusetzende Morphologie. Denn die Sprache ist ja ein Raum oder, wie der Atem, raumbildend, und sie ist vor aller Rede parataktisch und simultan, ein kursives Ereignis. Diesem Kursiven bin ich hier nachgegangen, diesem fast Englischen in den europäischen Bergen und den Buchstaben in einem Seminarium oder einer Pflanzschule oder einem Semiotikon. Zum Ende Jetzt unterscheide ich zwischen experimenteller Poesie und morphologischer Poesie. Wer sich für diese Unterscheidung, die bisher keiner hat treffen wollen, interessiert, der lese nach. Ich unterscheide, kurz gesagt, zwischen cogito, ego sum und cogito ergo sum, zwischen Identität und Gestalt. Ich unterscheide zwischen Identitätssystem und Semiotischer Wirklichkeit oder zwischen Aufbau-Verlagen und einem Buchstabenverlag. Die Verwendung ist ein Buchstabenverlag, und wirklich geschieht in diesen Tagen die Einrichtung eines neuen Verlags aus den Buchstaben der Verwendung und jenen der Zeitschriften Liane und Ariadnefabrik. Ich habe also, denke ich, unterschieden zwischen Nimbus und Buchstabe. Oder ich finde: die Diskretion. Sedes discretae, die abgelegenen Häuser, ich denke, nur die abgelegenen Häuser sind die erkennbaren. Lassen Sie mich zum Schluß ein nichts beweisendes, höchstens für sich selbst sprechendes Gedicht von Ulrich Zieger vorlesen, ein Gedicht nicht zu verwenden, Teil eines größeren Zyklus mit dem Titel Neunzehnhundertfünfundsechzig, erschienen in der Verwendung im April 1988 -


so gehe
in zwiefacher richtung
dein herz zu verbrennen im laub
deinem baum mag kein gott wachsen
nicht den annahmen über den zustand
der dörfer
deren entschiedenes atmen den rand
meines blicks bildet ausfüllt
beschwert sollen die worte gelten
dem blau der getreide
dem verachteten meer

links und rechts meines weges
sollen die kinder dir vorspielen sie
spielten auf der mundharmonika
und wieder nur sagen daß in den wolken quellwolken
zirruswolken geckofarbenen horizonten
die ahnungen der männer gefunden sind die gesichter
der frauen
die wasserlöcher das fett

stadtaus ging ich rückwärts landein
gingst du vorwärts
mich zu verraten wenn
deine stille
von farnen häuslern dampfnudeln
handelte die mich in meinen mänteln verfolgen
im haar in den klumpigen augen
dich unter die regenschirme zu stellen
auf den begräbnissen
unweit der busbahnhöfe

geh es ist nacht und ich gehe
in zwiefacher richtung mein herz
zu ersticken im kraut
meinem baum wächst
ein winziger mensch aus den rippen
ein boshafter scharfer beobachter und es soll
tag um dich sein wenn du gehst
zu erfrieren in vorgärten oder das gehen
zu überwinden
ich weiß die gestalt und das ausmaß
der unumkehrbarkeit
nicht zu enträtseln
der nähe ... der im stadtwald gebliebenen


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