Birgit Kempker

Castel Clavel, ein plastischer Komplex




«Wenn ich wölbe, habe ich immer das Gefühl Lufträume mit ihren Energien einzufangen in deren Verdichtung dann ein Geistiges zur Explosion kommt... der 20 Meter lange Gang ist im Rohbau fertig, ebenso die Hälfte des Kettenbogenportikus.» Positano, 9.Oktober 1923.

Malterahaus, Sirenenzimmer, Diamantzimmer, Lietzhaus, die Grotte. Möbel, Muster, Decken, Kamine, Korridore, Muschellampen. Wünschelrute, Kompass, Minenarbeiter und der treue Sprengmeister Maestro Agosto. Isolierwände, Lüftungsschächte, Turmküche. Terrassen, Mauern, Glas, Eisen, Holz, Zement, Salz und Wasser, Wasserauffangsysteme. Der Berg, die Barke, der Sarazenenweg. «Die Gegenstände in Übereinstimmung mit ihrer metaphysischen Dynamik». Wassermangel, Zisternenbau.

Clavel kam und sprengte

Als ginge es um ihn selbst. «Nein, es ist dieser alte Zwitterzustand, dieses Fürchtenmachen geheimer Spione, die meinen Körper in aller Stille unterminieren.»
Clavel beschreibt seinen Körper als einen von fremden Mächten gekaperten, oder von abgekapselten Teilen, im Körper selbst oder ausserhalb gejagten und durchsetzten. Die Tumore, die Tuberkulose, die Entzündungen, der Prostatabefall, alles Fremdbesetzung, interpersonales Drama.
Wegen seelisch-leibinnerlichem Aufruhr, Clavel benutzt dafür auch gern das Wort: Krieg, fühlt er sich den Futuristen und ihren Ideen nah, weniger wie diese gesellschaftlicher Umbauabsichten wegen. Aus einer Art katharsysverfallener Durchbruchsehnsucht und -panik heraus, wühlt und haut sich Clavel durch den Fels, versucht, ihn behausbar zu machen, wirtlich, durchlässig, die verschiedensten Ebenen verbindend und stabil, mit Licht zu durchfluten, mit Wasser zu nässen. Durch wessen Körper ackert sich dieser Mann?
«Jedes Schloss besitzt zwei Schlüssel», schrieb Gilbert Clavel 1916 in seiner Erzählung «Ein Institut für Selbstmord», von Tavolato ins Italienische übersetzt und in Rom mit Zeichnungen von Fortunato Depero, herausgegeben, mit dem Buckligen, il gobbo oder Scarteluzzo, wie sein Spitzname in Positano war, mit Gilbert Clavel also als Hauptfigur.
In der Erzählung besitzt jeder Sarg ein Schloss und jedes Schloss zwei Schlüssel. «Von denen wird der eine dem Toten beigelegt, der andere dem staatlichen Beglaubigungsamt überwiesen.»
Es stehen drei Todesarten zur Auswahl im Institut für Selbstmord: Todsaufen, Wollust und Pantopon, die vierte wäre, die drei Arten zu vereinigen, also dreimal zu sterben, was den Gedanken des Selbstmordes unterläuft, was das Ich der Erzählung bravourös tut. «... Und das Auge öffnete sich wieder zu einem Zwinkern, wurde grösser und grösser, schimmerte wie ein Regenbogen, und floss zuletzt in den Achterstrom.»
Es ist nicht das bedrohliche, alles beobachtende Kontrollauge, sondern das magische sanfte ewige Auge im Zentrum, wo nichts, was jemals gesehen oder gedacht wurde, verloren geht. Immer wieder bebrütet Clavel dieses Auge mit dem Satz: «Tod ist eine Veränderung des Zentrums», den er mal Giordano Bruno, dann Montaigne zuschreibt und auf den er sich mit allen Mitteln zubewegt, den Satz, oder bewegen lässt. Wunsch nach Auflösung und Wunsch nach Kompaktheit und Form sind in diesem Satz für Clavel keine Gegensätze, im Gegenteil. «Ein Vogel rief: Kuckuck», so endet die Erzählung.

Ein Kuckuck ist ein Fremdei im Nest

Gilbert Clavel liess sich einen Bleisarg massanfertigen, weil ihm die Kisten zu normal und zu lang gewesen seien, schrieb Siegfried Kracauer 1925 in seinem Aufsatz «Felsenwahn in Positano», 2 Jahre vor dessen Tod in Kleinhüningen, und Gilbert: «...möchte ich dich bei dieser Gelegenheit an meinen alten Hoden erinnern, der in Kleinhüningen in einem Einmachglas aufbewahrt wird. Ich sagte Mama, sie solle etwas Flüssigkeit auf das verlorene Ei giessen lassen, um es vor der ewigen Vertrocknung zu retten. Wenn dann das Gold wieder im Preise sinkt, werde ich mir von Sauter eine goldene Kapsel dafür bilden lassen, damit ich mein Ei als Talismann in der Tasche tragen kann. In einer guten Stunde werde ich es auch einer schönen Frau in die Hand legen und sie raten lassen.» und «Der Grundriss (der grossen Grotte, A.d.V) soll später einen in der Sektion gesehenen Hoden darstellen. In dieser Grundform versteinere ich symbolisch - ohne dass es jemand merken wird - was mir die Natur vom Lebendigsten genommen hat.»
Gilbert Clavel mochte bizarre Geschichten und mochte es auch, andere damit und mit anderem, z.B. mit seinem blauen Urin nach einer Urinkur, zu behexen. Auch Siegfried Kracauer verfiel dem Hexenmeister und dem Castel Clavel, das er euphorisch emphatisch ekstatisch anschrieb als einen Ort, der Himmel und Hölle verbindet, zumindest oben und unten, links und rechts, früher und heute, Mann und Frau, Fisch, Vogel, Luft, Wasser und Stein.

Im Zentrum des Steins

Es könnte jemandem Gilbert Clavel in seinen Schriften und plastischen Taten auch nüchtern, fast hypernüchtern erscheinen, auf der Suche nach der ultimativen Kristallinität im Zentrum des Steins, usw. Sicher ist eines: Den Turm, das Castel Clavel betreten, war und ist, als träte man ein in sich selbst, als sei das Castel Clavel eine Transformatorburg. Eine Steinschleuder. Ein Katapult. Ein Zauberstab. Ein Kassiber. Eine Schneise. Eine Drainage.
«Soeben habe ich mir ein längliches Rohr in den Auspuff meines mit Ablagerungen verhängten Darmes gesteckt und ein helles, heilsames Teelein hineinfliessen lassen. Darauf ist ein vesuvischer Ausbruch erfolgt, der mein Allerwertestes wiederum zu einem Zielfernrohr machte. Was ist der Mensch doch für ein merkwürdiges Auto in dem er seine Seele fährt, nur wie macht er es, sich betrachtend, draussen und drinnen zu sein. Gottlob bleibt diese Doppelsicht dem normalen Menschen (in dieser Art) erspart, er würde sonst das Dasein als etwas Ungeheuerliches empfinden. Bei mir ist das alles Natur. Körper und Seele verhalten sich zueinander noch ganz respektvoll - vielleicht so wie die siamesischen Zwillinge.»

Als Kracauer mit der Barke den Turm ansteuerte, landete er mitten im eigenen Gekröse, schlingerte, kullerte, rutschte und fiel und spuckte es wie ein heisser Krater für die Frankfurter Zeitung wieder aus. Hier einige seiner bemerkenswerten Brocken:
«Denn die Wut lauert hinter den Formen, berserkerhaft sticht sie ins Leere. Das Bett ist verschiebbar, es gleicht dem im Märchen, das Gruseln machen soll... Zauberei fegt über den Ort. Er ist die Enklave verschollener Gewalten, die in der antikischen Landschaft ein Refugium gewonnen haben und nun leibhaftig erscheinen... Ein Gebeinmagazin, säuberlich aufgeschichtet, ein entsetzliches Konglomerat, das sich von der Spitze des Kegels aus im Halbrund zerstreut... das selbstbewusste Tischmassiv, der Kamin, vom Stalaktitenüberhang bedacht. Vorweggenommener Konstruktivismus, schmucklos und kristallinisch... gesammelt überrumpeln die Elementargestalten das Bewusstsein... der Schrecken des Eingebanntseins in die Erde und das Gestein... von den Terrassen aus grüsst er höckrig und blau.»

Sie kommen mit so verschiedenen Clavels hier an, im Castel Clavel, sagt Daniele Esposito, Clavel, das schwarze Schaf der Familie, Clavel, der geniale Architekt und Belüftungsspezialist, der Gesamtkunstwerkkünstler, Clavel, der Schriftsteller, Dichter, Geniesser und Leidender, Clavel, der Mann mit den Goldzähnen, den femininen Schuhen, der Nase, so gerade, wie ein Meerengel, Clavel, der Freund des Volkes und Liebhaber der Dichtung und Metaphysik, Clavel, der Homosexuelle, Clavel, der Kosmogene, Clavel, der Ägyptenspezialist, Clavel der Bruder von Alexander und René Clavel, Clavel der Sohn der Mutter, Clavel der Künstler und Künstlerfreund im Kreise der italienischen Futuristen, der Mann der plastischen Lösungen im Theater, aber auch im Denken und Empfinden. Und sein Clavel?

Jedes Schloss besitzt zwei Schlüssel

Daniele Esposito lebt seit 20 Jahren mit dem Turm und in dieser Weise mit Gilbert Clavel, er hütet ihn. Sein Clavel ist der Freund und enge Mitarbeiter von Fortunato Depero, von dem einige Werke in Espositos Privatbesitz sind. Auch wenn sich Depero und Clavel nur für kurze Zeit hauptsächlich zwischen 1917 und 1918 getroffen und miteinander gearbeitet haben, waren sie notwendig und heftig anregend füreinander.
Depero schreibt in seinem Artikel: «Plastische Welt und plastisches Theater» unter dem Einfluss Clavels: «Ich kehre zurück zu einer ernsten Perspektive des verstandenen und nicht gesehenen Körpers, zu einer tiefgehenden Betrachtung bis hin zur Berechnung der intuitiven Werte. Die rhytmischen und organischen Zusammenhänge der kleinsten Details mit den grössten Massen, zwischen unsichtbaren Wiesenblümchen und riesigen tropischen Pflanzenwelten; massive, schwere Geometrie von Palästen, Türmen, Burgen... die Schaffung der neuen Objekt-Mensch-Tier-Blume, die in anderen Milieus, in anderen Welten lebt.» Clavel selbst war überrascht im Atelier Deperos im Bühnenbild für das «Russische Ballett» seinen eigenen Traum, die mit Blumen bedeckte Insel seines Traums, zu entdecken. Wieder war etwas Geistiges, der Traum, Gestalt, Form und Materie geworden, und das durch die Hände eines anderen. Deperon, ein temporärer Zwilling.
Der zweite Clavel von Daniele Espostio ist vermutlich der seiner Kindheit, der Clavel, von dessen Turm er ins Meer sprang. Der des mit der Principessa geteilte Geheimnisses und der des Stolzes auf Clavel, auch der der geteilte Sorge um ihn, seine Burg und seinen Geist, eine Art Gastfamilie für Clavel. Geist nicht als wandelndes Gespenst, aber als spürbare Anwesenheit in den Dingen z.B. des Turms, der Stuhl, der Schreibtisch, ein schönes Gefühl, sagt Daniele Esposito.
Es steht viel geschrieben, es gibt viel zu lesen von und über Gilbert Clavel, den Turm und es gibt ca. 200 Türme dieser Küste entlang, es gibt viele Fotos aus vielen Zeiten, doch das ist es alles nicht. Jemand müsste hineingehen und in ihm bleiben, auf seinem Stühlchen sitzen, von seinem Tischchen essen, einige Wochen, Tage und vom ureigenen Gekröse aus, sich vom Turm umgeben lassen, durchfluten, die Lungen, aber auch die Haut einpökeln lassen, so ein wunderbares starkes salziges Fiebergefühl, jemand müsste mit der eigenen Architektur und Chemie quasi Turm zu Turm in einer Art Osmose sich stellen oder fallen, dieses Wuchern und Anschwellen, dann Bersten, Platzen, Brechen, am eigenen Leib buchstabieren. Es wäre eine durch und durch körperliche, und das ist das faszinierende, und zugleich überkörperliche, nebenkörperliche und ausserdem zum Himmel ziehende und in die Erde sinkende, entkörperlichende, sanft gesagt: geistige Angelegenheit. Es wäre als würden Körperteile, angeeignete und eigene, förmlich ausgelagert, abgelegt, seitenverschoben, ausgespieen und rückverleibt. Dabei geht es immer um die Schönheit der Ordnung, um die Ekstase, das Disparateste, fragmentierteste in eine Form zu laden, die dicht ist und durchlässig zugleich, fest und bestimmt und doch sich vermischend und strömend.
Clavel hat seinen Turm nicht mit Zollstock und Rechenschieber auf dem Reissbrett entworfen und dann die Steine entsprechend behauen, nicht Fenster und Türen den Plänen entsprechend zugerichtet. Er hat diesen Turm, fast würde ich sagen: genäht, zusammengetragen vom Zentrum aus, vom Turm aus ins Land hat er die passenden Steine gesucht und gefügt, nicht ohne Maschinen, doch wie Klee schon schön sagte: parallel zur Natur. Der Turm, dein Organ, die Doppelhelix, die senkrechte Konstante, dein Schirm, dein Schutz und dein Ich.


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