Michael Braun

Letternfuror, alphabetisch
Die Wiederkehr des Edward E. Cummings



Frankfurter Rundschau, 10. Oktober 2001

Von dem monumentalen Œuvre des amerikanischen Dichters Edward Estlin Cummings (1894-1962) ist hierzulande nur noch die weit verbreitete Unsitte übrig geblieben, sich durch ebenso konsequente wie unmotivierte Kleinschreibung von Verszeilen als experimenteller Dichter auszuweisen. Während seine Gedichte kaum noch gelesen werden, überlebt sein Avantgardismus als bloße Prätention, als eitle Geste.
Mit dem ihm eigenen Rigorismus war der junge Cummings einst vor Gericht gezogen, um die Kleinschreibung seines Namens auf eine juristisch verbindliche Grundlage zu stellen. Das war das biografische Vorprogramm zu dem ästhetischen Fundamentalismus, mit dem dann «e.e.cummings» die literarische Welt zu erobern gedachte.
Das Wunderkind, dem die Eltern die genialische Künstlerexistenz als Karriereziel auferlegt hatten, verfiel schon früh in eine manische Produktivität. Schon der Achtjährige fing an, im Stile eines Romantikers zu dichten und Aquarelle zu malen, der Student schlug sich dann rasch auf die Seite der neuen revolutionären Kunstbewegungen, die um 1910 die Welt der Kunst aus den Angeln hoben. Als Maler adoptierte der junge Cummings die Verfahrensweisen von Kubismus und Futurismus und suchte alsbald fieberhaft nach Transformationsregeln, um diese kubistischen Techniken auch im Gedicht zur Geltung zu bringen. Sein poetisches Zauberwort hieß «Bewegung». Alles Statische, alles in Begriffen oder Abstraktionen Erstarrte wollte der Rebell aus Neuengland in Trümmer legen.
Und so begann er aus den futuristischen Thesen F. T. Marinettis und dessen Forderung nach einer «Zerstörung der Syntax» seine Schlussfolgerungen zu ziehen. In Paris hatte Guillaume Apollinaire mit «Kalligrammen» experimentiert, mit typografisch weit aufgefächerten Bild-Gedichten, in denen aber das Wort als geschlossene Einheit noch intakt blieb. Das unerhört Neue an Cummings’ Experimenten war nun, dass er in kubistischem Eifer auch an die einzelnen Wörter im Gedicht heranging, um sie in sorgfältiger Dekomposition zu zerlegen, zu verschieben und sie in kühnen a-grammatischen Fügungen wieder zusammenzusetzen. Zum Ideal erhob der Maler-Dichter das «seeing around», das synchrone und synästhetische Sehen und Wahrnehmen:
Wer Cummings aber nur als rigiden Erzexperimentalisten sieht, unterschlägt die enorme Masse von konventionell gebauten Texten, die in seinem Œuvre zu finden sind. Zwar unternahm der Dichter immer neue Anstrengungen für eine lyrische Dynamisierung der Gedichtzeile, um dann aber im nächsten Atemzug seine eigenen Doktrinen vom «kinetischen» Vers zu widerlegen – und zwar in Liebesgedichten, die so schwelgerisch und hymnisch daherkommen, als sei ihr Autor ein verspäteter Romantiker. Es ist diese nie zu beruhigende Ambivalenz zwischen Tradition und Avantgarde, die als ästhetische Unruhe in den Cummings-Gedichten vibriert und die Lektüre zu einem außerordentlichen Vergnügen macht.
Deutsche Leser waren fast ein halbes Jahrhundert lang auf die knappe Cummings-Auswahl angewiesen, die Eva Hesse 1958 zusammengestellt hatte und die vom Dichter selbst noch autorisiert worden war. Aus dem fast tausend Gedichte umfassenden Werk des Dichters hatte Hesse einen repräsentativen Querschnitt erstellt, der neben den radikal experimentellen Gedichten auch die verhalteneren Cummings-Töne präsentierte. Diese kanonische Cummings-Übersetzung Eva Hesses, die nach einigen Erweiterungen noch immer lieferbar ist, hat nun endlich eine ernstzunehmende Konkurrenz bekommen durch zwei neue, fast zeitgleich erschienene Auswahlbände, in denen neue Facetten des sprachbesessenen Avantgardisten sichtbar werden. Die zweisprachige Cummings-Übersetzung von Lars Vollert, die insgesamt 44 Gedichte enthält, wird eröffnet mit einer ganzen Reihe von hinreißenden Liebesgedichten, in denen Cummings als entzückter Romantiker auftritt, der seine «lady» in sinnlich überbordender Metaphorik und sich selbst anfeuernder Emphase besingt. Auch wenn Vollert in seinem Nachwort die «verlustreichen Entscheidungen» betont, die ein Cummings-Übersetzer zu treffen hat, so staunt man doch über die konzentrierte Genauigkeit, mit der seine Übersetzung den formalen und semantischen Bewegungen des Originals folgt.

Die ebenfalls zweisprachige Cummings-Übertragung des jungen Romanautors und Lyrikers Mirko Bonné schlägt einen gänzlich anderen Weg ein. Sie verfährt rigide alphabetisch, wobei die Cummings-Originale und ihre Übersetzungen offenbar als gleichwertige Kunstwerke betrachtet werden.
39 Alphabetisch: Der formalistische Titel und die zahlenspielerische Gliederung der Texte können sich noch auf Cummings eigene Ordnungsprinzipien berufen, liebte der Dichter doch rein numerische Titel wie is 5 oder 73 Poems. Eine gewisse Kühnheit dieser Cummings-Ausgabe liegt aber darin, dass sie – in Weiterführung der notorischen Zahlenspiele des Dichters – Originale und Übersetzungen nicht einander gegenüber stellt, sondern für beide eine alphabetische Abfolge nach dem Anfangsbuchstaben des jeweiligen Gedichts herstellt, so dass stets wildes Hin- und Herblättern nötig wird, wenn man nach den deutschen Übertragungen sucht. Hat man diesen editorischen Einfall erst einmal akzeptiert, so wächst bei der lesenden Suchbewegung bald auch die Lust am Durchwandern der Cummingsschen Gedicht-Labyrinthe und am Auffinden entsprechender semantischer Ariadnefäden.
Bonnés Cummings-Übersetzung macht sehr anschaulich, wie sich hier der Gedichtkörper unter dem Einsatz aller Kräfte und einem streng organisierten Letternfuror um Sinnlichkeit bemüht. Die Auswahl präsentiert nicht nur den Virtuosen der Wort-Zerlegung, sie zeigt Cummings auch als Epigrammatiker, als Verfasser von kleinen Liebesliedern und Kinderversen, als Natur-Enthusiasten oder als Realisten des «snap-shots», der «l kleine maus» über den Boden huschen sieht oder «ein altes blaues rad in der wiese» entdeckt. Der Lettern-Tänzer Cummings, der Glockenschläge typografisch in eine poetische Treppenstufen-Form übersetzt, tritt ebenso auf wie der lautmalerische Sprachartist, der das Erwachen des Lebens beim Sonnenaufgang schildern will:

dem grunzgrinz wockelwackel
tschempitschamptschomps ja
jetzt scherrt die gesprenkelte strebe und
scharrt-schurrt...

Die größte Herausforderung an den Cummings-Übersetzer stellen natürlich die ineinander geschobenen und durch Satzzeichen und Parenthesen verfugten Wort-Dekompositionen dar, von denen Bonné zahlreiche Exempel präsentiert. Während Vollert sich an einigen Stellen semantische Freiheiten zugesteht, versucht Bonné fast immer buchstabengenau zu übersetzen.
In der Miniatur «un (bee) mo», einem komplexen Silbenkonstrukt, das in beiden Ausgaben enthalten ist, entscheidet sich Vollert für sinn-rettende Lesbarkeit, Bonné für Artistik. Das erste Teilstück: «un (bee) mo // vi / n (in) g», überträgt Vollert: «re (biene) gung / s / l (in) os», während Bonné die Zersplitterung beibehält: «re(biene)gu / ngsl / o(in)s».
Angesichts solcher komplexen Wort- und Silbenverschachtelungen beginnt man zu begreifen, warum Edward Estlin Cummings, dieser Klassiker der Moderne, mit seinem Programm der Zerreißung des Gedicht-Körpers so gar keine Nachfolger gefunden hat. Epigonen mit einem Bedarf an ermäßigten lyrischen Konditionen können hier nur scheitern.



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