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Hans-Jost Frey

Über das Andere zum Gleichen.
Zur Beurteilung dichterischer Übersetzungen




Rezensionen von Übersetzungen dichterischer Texte fallen häufig durch die Schärfe der in ihnen gefällten Urteile auf, was insofern zu denken Anlass geben kann, als die getadelten Übersetzer in manchen Fällen selber Dichter von Rang sind, von denen man annehmen darf, dass sie auch über die Gedichte, die sie übersetzen, und vielleicht sogar darüber, wie sie zu übersetzen seien, auf eine der Sache angemessene Weise nachdenken. Nicht alle und am wenigsten die professionellen Übersetzer tun dies. Es entstehen dann Übersetzungen, die «sich gut lesen», «das Original genau wiedergeben» usw. Dieses routinemässige Übersetzen unbefragt als Mass anzunehmen, besonders wenn es im Zusammenhang mit Gedichten geschieht, ist ein beengender Irrtum.

Die Übersetzung steht in Beziehung zu dem Text, dessen Wiedergabe sie ist: Sie entspricht ihm. Was aber Entsprechung hier heisst, steht keineswegs fest. Der unreflektierte Anspruch ist meistens die utopische Gleichheit von Original und Übersetzung, also eigentlich deren Aufhebung. Denn die Übersetzung als solche ist dem Original nicht gleich, sondern ähnlich, was bedeutet, dass es wesentlich zu ihr gehört, auch anders zu sein. Nur als andere kann sie entsprechen.

Aber auch die Forderung nach Ähnlichkeit kann in die Irre führen, denn sie qualifiziert die Übersetzung zu eng als Nachahmung. Kaum jemand wird eine noch so genaue Sinnwiedergabe - einmal angenommen sie sei möglich - für eine angemessene Übersetzung eines Gedichts halten. Aber wird sie dem Original ähnlicher, wenn sie zum Beispiel dessen Verse übernimmt? Vielleicht dadurch, dass es überhaupt Verse sind. Aber zu glauben, man könne etwa französische Alexandriner durch deutsche ersetzen, ist unter dem Gesichtswinkel der Ähnlichkeit eine Illusion. Man entfernt sich durch die Nachahmung des Versmasses viel weiter vom französischen Gedicht, als wenn man nach einem Vers sucht, der, vielleicht ganz anders strukturiert, in der deutschen Überlieferung eine Rolle spielt, die der des Alexandriners in der französischen Tradition vergleichbar wäre. Der französische Vers ist durch einen deutschen ebenso wenig wiederzugeben wie der lateinische, weil die jeweilige Metrik auf Grund der Verschiedenheit dieser Sprachen auf ganz anderen Prinzipien aufgebaut ist.

Mehrdeutige oder mehrwertige Passagen in Gedichten geben zu vergleichbaren Überlegungen Anlass. Wortspiele lassen sich selten in eine Übersetzung hinüberretten, aber die Frage, ob man sich einfach damit abfinden oder versuchen soll, auf andere Weise und an einer anderen Stelle etwas Ähnliches zu erreichen, ist damit nicht beantwortet. Auch hier ist zu erwägen, ob nicht vielleicht der Mut des Übersetzers, das Andere zum Zug kommen zu lassen, um das Gleiche zu bewirken, ihm manchmal erlaubt dem Original näher zu kommen, als wenn er an ihm kleben bleibt.

Die Ablehnung von Versuchen dieser Art wird meistens mit der vordergründigen Entfernung der Übersetzung vom übersetzten Text begründet. Diese, bei Gebrauchstexten ein Mangel, ist bei dichterischen Werken nicht grundsätzlich zu verwerfen, sondern ist vielmehr insofern vertretbar, als bei Sprachgebilden, in denen die Materialität der Sprache nicht weniger Aufmerksamkeit verlangt als die Bedeutung, der Übersetzer die Möglichkeit haben muss, unter Umständen die Genauigkeit der Sinnwiedergabe einer Klangsequenz zu opfern oder eine Beziehung zwischen Klang und Sinn dadurch zu bewahren, dass er beides ändert. Er kann sich sogar veranlasst sehen, das Gesagte des Originals zu verändern, wenn er ihm dadurch, aufs Ganze gesehen, besser zu entsprechen hofft. Denn die Übersetzung eines Gedichts kann diesem nur wirklich entsprechen, wenn sie wiederum ein Gedicht ist. Dass sicher und leider viele Leute Gedichte übersetzen, die keine Dichter sind, stützt die Behauptung nicht, der Übersetzer solle sich nicht anmassen, einer zu sein. Alles konventionelles Gerede über dienende Treue und Adäquatheit ist hinfällig, wenn eine Übersetzung eines Gedichts diesem nicht als einem Gedicht entspricht, was sie nur durch die Entfaltung einer dichterischen Eigenständigkeit erreichen kann.

Ausgehend von einem bestehenden Gedicht ein Gedicht zu schreiben, ist ein Unternehmen, das nicht zu verstehen ist, wenn man nicht über die üblicherweise auf Übersetzungen angewandten Kriterien hinausdenkt. Einen möglichen Ansatz dazu könnte, ohne die Komplexität des Gegenstands auszuleuchten, die Analogie liefern. Anders als die Interpretation, die den Wortlaut des Gedichts unangetastet und die Rückkehr zu ihm offen lässt, ersetzt die Übersetzung den Text durch einen neuen. Das Ziel der Übersetzung, wenn sie mehr als eine Verständnishilfe für Sprachunkundige sein soll, ist die Findung eines Sprachgefüges, das das übersetzte dadurch evozieren und vertreten kann, dass die in ihm spielenden, Beziehungen zwischen allen seinen ineinander greifenden Ebenen gesamthaft jenen des Originals analog sind. Diese Analogie, als Gleichheit nicht der Gegenstände, sondern der Beziehungen, kann sich nur herstellen, wenn die notwendige Verschiedenheit der Übersetzung vom Original nicht als ein Mangel beklagt oder allenfalls als unvermeidlicher Nachteil hingenommen, sondern im Gegenteil als ihre grosse Möglichkeit erkannt und genutzt wird.

Jemand hat einmal, für viele vielleicht überraschend, die Fähigkeit zur Suspendierung des Urteils die zentrale Tugend des Juristen genannt. Gleiches gilt für Rezensenten literarischer Werke und besonders für solche, die sich auf dichterische Übersetzungen einlassen, weil es hier eines noch merklich grösseren intellektuellen Aufwands und darüber hinaus eines ausgeprägten Sinns für Dichtung bedarf, um die herrschenden Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen. Wenn man sich zu verstehen bemüht hat, was ein übersetzender Dichter sich vorgenommen hat, kommt die Bewertung immer noch früh genug.

Für Quereinsteiger: Zur Hauptseite von Urs Engeler Editor