Stefan Ripplinger

Dickinson's Dashes (Auszug)



Die seit etwa zehn Jahren immer kecker vorgetragene Behauptung, «Geschichten zu erzählen», «Geschichten zu hören», sei ein menschliches Grundbedürfnis, ist nicht nur konservativ, sondern trägt terroristische Züge. Warum müssen sich vielgestaltige Empfindungen und Gedanken derartigen archaischen Artefakten fügen? Wozu diese Versimpelung? Könnte es nicht genauso gut als ein legitimes Bedürfnis gelten, keine Geschichten hören zu wollen, weder die verlogene von der «Nonne von Amherst» noch die fortschrittliche von der «polyvokalen Queen»? Eine solche Auffassung könnte bei Dickinson, die das Recht einforderte, «to live and die in obscurity», ebenfalls ihre Bestätigung finden. Am Ende hätten also die unscheinbaren Gedankenstriche, die alle Herausgeber Dickinsons für überflüssig erklärt haben, eine erneute, gründlichere Lektüre erzwungen. Und Emily Dickinson finge an zu sprechen. Sie spräche in jenen merkwürdigen Pausen, die Sperren sein können, Fallen, Bruchstellen, das Grollen eines Vulkans, ein Schlagen gegen den Takt. Die Gedankenstriche deuteten aber auch auf Pausen im Verstehen, auf unzugängliches Gebiet. Sie besäßen dadurch aber nichts Abweisendes, sondern lüden gerade ein näher zu treten, sofern man die Distanz und Kälte, die ein modernes Gedicht abfordert, zu ertragen bereit ist; sofern man es ertragen kann, nicht zu verstehen. Die Gedankenstriche könnten von einer Unerklärlichkeit künden, welche man sich, ohne Geheimnistuerei, als Freiheit in einer übererklärten, sinnversuppten Welt bewahren sollte.


(Aus: Auch. Aufsätze zur Literatur)



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