Birgit Kempker

A Priori Perdue





Als Josef sieben Jahre alt war, sagte seine Mutter: Josef, als du drei Jahre alt warst, kaufte er Vanilleeis, dein Vater, und ich schrie. Dein Vater sammelte sich nach innen, er implodierte und wurde fast so klein wie du damals. Ich setzte mich senkrecht hin, da wurde er noch kleiner. Er legte das linke Bein auf das rechte Knie, den rechten Ellbogen auf das linke Knie, führte den Unterarm als Hebel vom Knie zum Mund und beugte sich zum Löffel, bis er ihn traf.
Was ist das, fragte ich ihn, sparen, sagte er, Bewegung sparen und wie er unglücklich sei, wie er nicht so sein könne, nicht mit mir, wie er gerne wäre und sich verstellen müsse, sagte dein Vater und ich sagte: sei so und geh, und er ging, sagte die Mutter zu Josef, als er sieben Jahre alt war über das Verschwinden des Vaters, als sie zu dritt am Tisch Vanilleeis assen.
Glück, dachte Josef, kommt als Mangel vor. Ein grosser Mangel an Glück kann einen Mann zu Taten treiben, z.B. zur Kunst, dachte Josef und wollte das mit dem Mangel und Glück mit weniger Schmerz betreiben, als z.B. die Kunst und der Vater.
Er hatte zuviel Natur für meinen Geschmack, sagte die Mutter vom Vater und was lag da nah? Sparen, dachte Josef und woran lässt sich ohne Schmerz sparen? Buchstaben, dachte Josef, ich, lasse einen Buchstaben weg und weil eine wirkliche Einsparung gravierend ins Fleisch schneiden muss, deshalb beim Namen, dachte Josef und nannte sich mit vierzehn Jahren Josef Vogl.
Wilhelm wollte wissen, warum. Zum Sparen gehört Schweigen, dachte Josef, er hatte das e sparen wollen, in der Freundschaft wollte er verschwenderisch sein.
Später, Wilhelm, sagte Josef, schrieb sich bei den Germanisten ein, las Kafka, Franz und fragte sich, ob Kafka, Franz, dieser Glückvorsorge zugestimmt hätte.
Hätte Kafka mit Vater mit Schwindsucht beim Vanilleeis und anschliessendem Verschwinden nach Aufforderung der Mutter, hätte Kafka an seinem Nachnamen das a weggelassen, Franz Kafk? Oder das K? Franz Afka?
Das Schlo? Der Proze? Amerik? Merika? Der Rozess? Das Loss? Was wären das für Bücher geworden? Die Titel von Franz sind kurz, denkt Josef, kürzere Titel, längere Bücher? Wie lange hätte er in das Schlo gelesen, was hätte er während dieser Zeit nicht getan? Nicht gelesen? Längere Zeit mit dem Schlo verbringen, hiesse das Sparen oder das Gegenteil?
Heisst das Gegenteil von Sparen Lesen? Heisst Lesen sich verschleudern? Ist Schleudern erotisch? Ist Erotik das Gegenteil von Sparen? Ist Sparen das Gegenteil von Verschwendung? Ist Verschwendung das Gegenteil von Verschwinden und ist Verschwinden sparsam? An was spart das Verschwinden, an sich selbst kann es nicht sparen, es ist ja a priori perdue.
Ass Kafkas Vater Eis? Wäre das die Frage gewesen, die Germanisten unter den Tisch fallen lassen? Die gefallenen Gegenstände unter dem Tisch sparen sich die Germanisten vom Mund ab, weil ihre Ideen über die Dinge, die unter den Tisch fallen, nicht fassen im Kopf. Es passt nicht zur Form der Dinge unter dem Tisch, zu der Form zu den Dingen über dem Tisch in die Köpfe zu passen.
Die Dinge über dem Tisch passen in Bücher. Wenn Josef dachte, was in Büchern steht, war: Dinge in Bücher stecken Schreiben und Schreiben Sparen, weil Schreiben Denken spart und Bücher Köpfe. Wenn Josef dachte, was nicht in Büchern steht, was aber hinein passen würde und was alles passiert, während Dinge in Bücher gesteckt werden, schon auf dem Tisch und drunter, schon während des Steckens, was ja Schreiben war, dann war Schreiben Sparen Sparen.
War die Kleinheit von Kafkas Vater der Motor von Kafkas Schreiben? War Kafka zu gross für die Kleinheit des Vaters und das war der Motor? Wenn Kafkas Vater mit Vanilleeis kleiner geworden wäre, dazu hätte eine Mutter gehört und ein Vater, der auf die Mutter hört, hätte Kafka dann: die Biene, Annegret und Niemand zu Hause geschrieben?
Wenn Franz Kafkas Vater mit Vanilleeis so geschrumpft wäre, dass die Mutter ihn zum Haus raus geschmissen hätte, wie es Josefs Mutter tat, weil kleine Männer sie in die Kleinheit rein ziehen und weil sie sich fürchtet, weil es eng, kalt, dunkel und feucht ist darin, weil man nicht rauskommt ans Licht aus der Kleinheit, weil Josefs Mutter sich nicht freuen konnte über die Kleinheit des Vaters, neben der sie die grössere ist und sich auch nicht über die Grösse freuen konnte, weil sie was Grosses lieben wollte, so gross, wie ihre Liebe sein wollte, und nicht was Kleines lieben, obwohl sich auch was Kleines mit grosser Liebe lieben lässt, was Kleines liebte sie schon, Josef, was wäre mit Franz, dem Sohn, passiert?
Wer opfert, gewinnt, einen Schimmer von Glück hatte sich Josef verdient, dachte er und gönnte sich einen Tag im Park. Da fragte ihn das Mädchen.
- Wer hat dir den Flügel geschnitten?
Kastration, dachte Vogl, Inquisition, es kam ihm hier vor den Flamingos fabelhaft vor. Josef liebte Fragen, wie sie das Mädchen stellte, ob er das Mädchen liebte, wusste er nicht.
Die Flamingos schliefen. Das Mädchen war weg. Das Traurige war, dass nichts zu amputieren war, es fühlte sich nicht nach Verlust an, es war nicht da. Josef Vogl konnte nicht fliegen und vermisste es nicht. Wie klein war die Traurigkeit?
Wollte Josef nicht gross sein? Was gross ist, kann schrumpfen, dachte Josef und an seinen Vater, der mitten im Schrumpfen Frau und Kind verliert, er denkt, er isst Eis und in Wirklichkeit fällt er mit dem Löffel im Mund und dem rechten Ellbogen auf dem linken Knie mitten aus der Liebe raus.
War die Liebe der Mutter von Josef gross? Zu gross? Kann eine Liebe zu gross sein? Im Verhältnis zu was ist etwas zu gross, wenn es so sehr zu gross ist, dass etwas, was deshalb zu klein ist, rausfallen kann? Im Verhältnis zu was kann die Liebe zu gross sein, wenn die Liebe es ist, an der sich die Verhältnisse messen? Die Löcher in der Liebe der Mutter waren so gross, dass ein Vater durchfallen konnte, wenn er klein genug war. Die Lust der Mutter den Vater fest zu halten war nicht gross, sie war klein.
Josef wollte eine Frau, deren Liebe so klein war, dass die Löcher in der Liebe immer zu klein sind für ihn zum Fallen, so klein er auch wird. Und er wird nicht klein, denkt Josef, weil er klein anfängt, er nimmt sich eine Frau, die ihn als klein kennt, als einen Josef ohne e im Nachnamen, als einen Josef ohne Flügel. Wenn Josef die Frau heiratet, wird sie Frau Vogl heissen und selbst kleiner werden davon und keine Kleinheit in sich finden zum Fallen lassen und keine Lust nötig haben, die gross genug ist, ihn zu halten, der klein ist, ausser sie heisst mit Mädchennamen Fräulein Wurm und ist schon klein, und zwar so klein, dass sie zu klein ist, um sich vor der Kleinheit zu fürchten, weil diese immer die grössere Kleinheit ist.
Jetzt die Frage nach der Liebe. Wie ist es mit meiner Liebe, soll sie in meinen Namen wachsen oder schrumpfen? Das war nicht die richtige Frage. Das e war weg. Das wars. Er hatte es abgeschnitten. Er hatte dem Glück nicht entwischen wollen. Er hatte die falschen Schlüsse gezogen. Das Mädchen war weg. Die Flamingos schliefen.
Josef Vogl setzte sich auf die Bank und weinte. Er wollte vor keiner Frau sitzen, die vor seinem Kind zu ihm sagt: sei wie du bist und geh, wenn er Eis isst, und gehen. Er wollte nicht gehen, wenn er Frau und Kind hat und gern haben will.
Der Wind kühlte die Nieren. Wenn die Nieren kalt sind, kommt die Angst. Die Angst zwingt den Mann, das Richtige zu tun, dachte Josef, bitte. Am Morgen füttert ihn der Wächter mit Bröseln.
Paul, sagte der Wächter, gestatten, Paul Flosse. Ab ins Loss mit Paul Floss? Wäre Paul Floss in Loss glücklich gewesen, glücklicher als im Park? Würde es heissen: Paul floss, in das Loss. Und wohin? War Fliessen Glück? Was, wenn Glück kein Gegenstand ist von Kunst und wenn, dann als Mangel, schrieb Wilhelm zu Musil, als er noch schrieb.
War die Nacht im Park das Glück und ungenossen verflossen? Josef biss in die Schreibhand vor Wut. Scheiss Rhetorik. Scheiss Genuss. Josef wollte es wirklich wissen und nicht mehr Worte für das Glück kennen, als das Glück den Josef Vogl kennt und gar nicht kennen will, wegen der Rhetorik, die sich gegen das Glück stellt, weil sie ein böser Käfig ist und missgünstig gegen alles, was sie nicht selber ist.
Obszön, das e, das Abschneiden vom e. Das Weinen. Das Unterschreiben. Vogl. Obszön. Er würde davon Wilhelm erzählen, der hatte nach Musil über das verlorene e bei Perec bei Professor Peter geschrieben, um Josef in einer Parallelhandlung zu verstehen, bevor er das Verstehen aufgab, um es bei Blume und Strauch zu versuchen, in Welwyn Garden, denn, wenn das Wort die Blume des Mundes ist, ist es die Blume erst recht.
Lieber Wilhelm, sagte ihm Professor Peter, bevor Wilhelm Professor Peter, Musil, Perec, Hölderlin, Heidegger, Kafka und Josef verliess, der ihn mit dem Sparen vom e verlassen hatte, das e repräsentiert Perecs verlorene Eltern, da gibt es nichts zu verstehen, sagt Rousseau: Wo der Vertretene sich befindet, gibt es keinen Vertretenden mehr, wo er sich nicht befindet, gibt es Literatur. Wilhelm gab der Literatur den Tritt.
Liebster Josef, schrieb Wilhelm, ich warte auf dich, ich kenne dich, komm, hier ist es schön und anschaulich, Wilhelm.


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