Michael Donhauser

Die Aprikose




Zwei Hälften, gleiche Hälften, «gleichlige», verschlossen zu einer Frucht, einem Satz aus zwei gleichen, geschieden nur durch einen Spalt, einen Strich, Beistrich: das ist die Aprikose am Anfang. Anfangend, indem sie ihre Herkunft wie prophezeit so behauptet und wiederholt: «die aprikosenbäume gibt es, die aprikosenbäume gibt es» Miteinschließend so, daß es die Aprikosenbäume nicht gibt, während sie in der Pause zwischen den beiden Hälften den Kern zur gegenteiligen Gewißheit trägt, als Stein, fruchtbar, Fruchtbarkeit bergend. Kein Punkt, weder vor dem Anfang noch in sich als Ende, noch am Ende als Abschluß, Umfang: eine in sich offene Frucht. Eröffnend, daß es die Aprikosenbäume gibt, und so das Alphabet der Bäume und Früchte, der Baumfrüchte und der Früchte als der Dinge, die es gibt, unterschiedslos, unterschieden, noch nach der Sprache, die keine Worte hergab für das, was geschah (Paul Celan).
Also hält dieser Anfang die Existenz oder an der Existenz der Aprikosenbäume fest, doch nicht fest, eher fließend, er hält ihre Existenz in Fluß, indem er wiederholt, ist so wiederholend als Wiederholung der Fluß: doch er beharrt doch auch, auf den Aprikosenbäumen, die es gibt, als vergängliche gibt, von Anfang an, von diesem Anfang an, der ihre Vergänglichkeit mitsagt, denn im zweiten Satz ist der erste als vergangener wiederholt oder erzählt. Und so wird die Weit unvergänglich, ähnlich der Welt der Fresken, weiche auf ihre Weise Gegenwärtigkeit und Vergänglichkeit gleichzeitig werden lassen, wenn Geschichte und Vorgeschichte zusammenfallen mit der Gegenwart als Welt oder Bild.
«Welche Welt, denke ich. Aber ich sage es nicht.» So lautet, stets in der Übersetzung von Hanns Grössel, das Ende der Erzählung aus Mantua von Inger Christensen. Hier birgt der erste Satz einen Ausruf oder eine Frage, doch nur gedacht, ohne Ausruf oder Fragezeichen, und der zweite Satz wiederholt das Nurgedachte als Nichtgesagtes, so sich nicht empörend, nicht fragend, in der Schwebe belassend, was in der Schwebe ist. Und so sagt der zweite Satz nicht, was der erste Satz nicht sagt und ist dieses Ende ein offenes, ein in sich geschlossen offenes, ähnlich vorläufig und endgültig wie das Ende eines Wachstums in der Form einer Frucht, einer zweiteiligen wie der Aprikose.
So es nicht sagend, doch wissend, hält sich Inger Christensen an die Regeln des Spiels, das die Kinder der Erzählung in einem alten Waschzuber spielen: «Am Fluß unten hatten sie einen alten Waschzuber gefunden und ihn in den Hof hinaufgeschleppt. Dort spielten sie, daß er ein Fahrzeug sei, das sie hinauf auf die Berge oder hinaus ans Meer führte. Auf der Stelle eroberten sie die Weit, und keiner hat sie je dabei ertappt, mit Sehnsucht auf etwas zu warten. Sie wußten, daß sie Menschen waren, und obwohl sie kaum drei oder vier Jahre alt waren, arbeiteten sie jeden Tag von morgens bis abends daran und zwar weitaus beharrlicher als später in ihrem Leben, die Welt unsterblich zu machen.» In denselben Waschzuber pflanzen sie etwa zehn Jahre später einen Apfelsinenbaum, von dem es heißt: «Der Apfelsinenbaum ist immergrün und trägt die ganze Zeit Blüten. Wenn die Blüten gelingen, trägt er ebenfalls die ganze Zeit Früchte. Auf Grund dieser charakteristischen Gleichzeitigkeit von verschiedenen Stadien im Leben des Baumes ist er immer Symbol für Reinheit und Keuschheit und für Fruchtbarkeit in einem gewesen. Und eben deshalb für die ewige Liebe.» Die Symbolwelt ist hier an die Stelle der Weltreise der Kinder getreten, und es heißt dann bezüglich des Symbols: «Als die praktischen Menschen, die sie waren, begriffen Piero und Nana dieses Geheimnis, sprachen aber nie darüber» Und so ist hier das Nichtsagen als Nichtsprechen wieder und wird hier, doch nur zwischen den Zellen, gesagt, daß das Nichtbegreifen des Symbols und also des Zusammenhangs von Baum und Weit nur das Anliegen unpraktischer Menschen sein kann. So daß wir am Ende der Erzählung in einem großen, runden Theater stehen, unter seinem Himmel im Freien wie im Freien unter dem Himmel des gemalten Zimmers.
Doch kehren wir zurück zu den Aprikosenbäumen, zu alfabet/alphabet, dem Gedicht, wo es heißt:

«und die obstbäume gibt es und das obst im obstgarten wo
es die aprikosenbäume gibt, die aprikosen bäume gibt,
in ländern wo die wärme genau die farbe im fleisch
erzeugen wird die aprikosenfrüchte haben»

Noch einmal wiederholt sich der Anfang hier, erinnert noch und gegenwärtig, begrenzt von einem Beistrich am Versende, in der Sprache des Originals verändert um diesen Beistrich nur, diese Einschränkung, bevor im nächsten Vers die Sprache die Aprikosenbäume aus der Sprache in Länder trägt, wo sie, noch von den Aprikosenfrüchten sprechend, deren Reife an eine Zukunft verliert. Denn nur der Verlust läßt die Früchte so reifen, so in der Zukunft und bis zu der Dichte der Aprikosenfarbe, die «genau» genannt Rest noch ist einer erinnerten Gegenwart.
Konkret, also gewachsen oder der Interlinearität entwachsen ist der Verlust dann in einem wilden Aprikosenbaum im ortlosen Irgendwo einer zeitlosen Augenblicklichkeit von Stillstand und Blühen, einem Blühen, das so zart noch gegenwärtig wird:

«irgendwo steht ein wilder
aprikosenbaum einen augenblick still und
blüht, doch nur mit einem ganz dünnen
schleier um die ausgebreiteten zweige,
bevor er dennoch fortfährt»

Womit fortfährt oder wohin, denke ich, doch das Gedicht sagt es nicht. Es sagt es nur, indem auch es fortfährt, bis es in der Folge heißt:

«irgendwo fällt etwas das keiner
angefaßt hat von einem regal herunter,
vielleicht während meine großmutter in ihrer
küche steht wie sie immer gestanden hat
und aprikosengrütze kocht;
ich weiß sie ist tot, doch der duft
ist so stark, daß der leib der ihn
wahrnimmt, selber zur frucht wird; und
während die frucht in den nächsten baum
gehängt wird, der vielleicht eine birke ist die
kätzchen trägt und nie aprikosen,
hört man schon vorher den schuß, früher als
kurz danach, und es klang wie eine
tür ohne haus die noch offensteht»

Hier ist zuerst wieder irgendwo, nur daß hier kein wilder Aprikosenbaum mehr steht, sondern etwas fällt herunter, doch nicht mehr in einem Augenblick, doch in einer vermuteten Gleichzeitigkeit mit Gegenwärtigem, das Erinnertes ist und wieder gegenwärtig als das Kochen von Aprikosengrütze. Nur der Tod ist gewiß und zu ihm im Widerspruch der Duft, der «so stark» genannte, der verwandelnde, den Leib zur Frucht, so daß Wahrnehmung und Metamorphose des Wahrnehmenden hier eins sind. Und in einer nächsten Gleichzeitigkeit führt die Verwandlung weiter in die Entfremdung, den Verlust der Zugehörigkeit von Frucht und Baum, der noch reflektiert wird vor dem Hintergrund einer Konfusion des Zeitlichen beim Versuch, den Zeitpunkt eines Schusses in der Vergangenheit so genau anzugeben wie sein Klang, der verglichen mit dem Zufallen einer Tür durch das Bild des Vergleichs wiederum zukünftig wird, da die Tür noch offensteht. So hebt sich Geschehenes und Ungeschehenes auf zugunsten oder kraft der Sprache, die beides geschehen oder ungeschehen macht, das Geschehene oder den Verlust, das Ungeschehene oder die Erinnerbarkeit.
Dann, wiederum in der Folge, ist die Welt zunehmend verloren, verschließt sie sich in der Form eines artfremden Traums, geträumt von einem Ich, das erzählt, den Traum, den fremden, beiseitegestellten, vergessenen, so erzählt, als ließe sich das Unglück schließlich erzählen, erzählbar oder zum Objekt geworden, objektiv: die Abwendung der Dinge, eines weißen Aprikosenbaums, und sein plötzliches Verschwinden. Und eine Vermutung greift dann zurück auf eine Vorvergangenheit vor der Vergangenheit des Traums, auf einen Sommer, eine weiße Weit, eine festliche vor dem Begreifen der Not oder Pflicht, zu träumen, zuletzt, nach dem Vorbild der Bäume, von Früchten oder: Früchte.

«ich schlief in meinem zimmer im hotel
es war wie ein artfremder traum,
den der gast vor mir im schlafe
beiseitegestellt und vergessen haben muß

im traume war keiner den ich kannte,
ich erhielt nur einen forschenden blick
von einem weißen aprikosenbaum der sich
umdrehte, bevor er plötzlich wegging

vielleicht ist er dort vergessen worden in einem sommer,
als die welt weiß war wie ein fest,
und ehe ich begriff daß ein träumer
träumen muß wie die bäume zuletzt
von früchten träumen»

Und so, also demgemäß ist das folgende Gedicht eine solche Frucht, ein solcher Traum und zwar von jener weißen Weit vor dem forschenden Blick:

«der schnee
ist gar nicht schnee
wenn er mitten
im juni schneit

der schnee ist
gar nicht vom himmel
gefallen
im juni

der schnee ist
selber aufgestiegen
und hat geblüht
im juni

wie äpfel
aprikosen
kastanien
im Juni

sich verlaufen
im richtigen schnee
welcher der schnee im juni ist

mit blüten und samen

wenn man nie sterben muß»

Lautet der erste Vers des Gedichts: der Schnee, und setzt es dann mit einer Verneinung fort, wenn es sagt, daß der Schnee gar nicht Schnee ist, so bleibt der Schnee doch so bestimmt der Schnee und ist nur unbestimmt nicht Schnee, in jener unbestimmten Weise, in der es schneit, so daß er schneit, noch einmal so bestimmt, mitten im Juni, wie es dann heißt. Und er bleibt auch der Schnee, wenn er gar nicht vom Himmel gefallen ist, wenn er entgegen der Bestimmung, jener unbestimmten von Schnee, selber aufgestiegen ist und geblüht hat wie Äpfel, Aprikosen, Kastanien. Oder er hat geblüht wie Äpfel, Aprikosen, Kastanien sich verlaufen, so heißt es dann, über den Zeilensprung hinweg, und zwar sich verlaufen im richtigen Schnee. Und noch einmal wiederholt das Gedicht seine gegenläufige Bestimmung von dem Schnee, dem richtigen, wie es betont, wenn es ihn bestimmt als jenen, weicher der Schnee im Juni ist mit Blüten und Samen. So ist das Gedicht ein beharrlicher Gegenentwurf und wie versöhnlich fast, so unbeirrbar, denn harmlos ist hier die Verirrung der Dinge, in dieser Juniwelt, wo die Bäume sich im Schnee des Gedichts verlaufen: wenn man nie sterben muß wie es in einem letzten Vers heißt. Und so ist zuletzt der Juni bestimmt oder bestimmt der Juni die Zeit des Gedichts als eine unendliche Zeit der Unsterblichkeit, und also der Dauer.
Die Beharrlichkeit ist es, die sich im Laufe von alphabet verändert hat. Durchwegs ist die Form der Beharrlichkeit die Wiederholung gewesen, doch in einem sich wandelnden Sinn. Ist sie anfangs eine Verdoppelung der Aussage und also beharrlich gewesen, indem sie zweimal dasselbe gesagt hat, sich so der Welt vergewissernd, ist sie nach dem Verlust dieser Gewißheit zunehmend Wiederholung als Erinnerung, beharrlich im Erinnern gewesen, so daß Gegenwärtiges und Vergangenes sich in ihren Bezügen verwirrt haben bis zur Unlösbarkeit. Im Traum enträtselt sich diese Unlösbarkeit zugunsten der Gewißheit des Verlusts und der Not dann oder Pflicht, diesem Verlust träumend zu begegnen, beharrlich zu sein im Träumen. Das heißt dann, hier, zuletzt, das Bestimmen noch einmal aufzunehmen, bestimmend die Welt zu wiederholen, entgegen den Bestimmungen, den unbestimmten, mit Beharrlichkeit.
So ist dem Anfang von alphabet, der zweiteiligen Frucht oder Aprikose, in der Folge oder alphabetisierend diese Folge als eine Struktur von der Art eines Baumes entwachsen, welcher die Selbstdarstellung der Dichtung in der Dichtung zugunsten einer Neubestimmung der Welt durch die Dichtung verläßt: zugunsten des Traums von Früchten, die den eigenen Anfang wiederholen.

(Wien, März/April 1992)



(aus: Preis für europäische Poesie 1995: Inger Christensen und Hanns Grössl, herausgegeben von Hermann Wallmann und Norbert Wehr, Münster 1995)


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