Michael Braun
Frankfurter Rundschau

Rauschbereites Ich



Müssen Wolken Wölkchen werden? Wladimir Majakowski, neu übersetzt

Unter den bedeutenden Literaturübersetzern aus dem Russischen ist der Dichter Alexander Nitzberg gewiss der streitlustigste. Wer sich die derben Angriffe ansieht, die der 1969 in eine Moskauer Künstlerfamilie hineingeborene Autor seinen Kollegen widmet, kann den prekären Eindruck gewinnen, hier werde mutwillig ein Verdrängungswettbewerb gestartet. Die meisten kanonischen Übersetzungen moderner russischer Poesie - von Ralph Dutli, Peter Urban oder Felix Philipp Ingold - verwirft Nitzberg als mehr oder minder fehlerhafte Freveleien am Urtext.

In einem bislang noch unveröffentlichten Essay hat Nitzberg in stolzer Apodiktik definiert , worauf es ihm - etwa bei der Übersetzung von Gedichten Anna Achmatowas - ankommt: nämlich auf die "exakte prosodische Nachbildung der Textvorlage (in Rhythmus, Melodik, Reim)". Die Kühnheit dieses Glaubens an die semantische und phonetische Texttreue manifestiert sich nun auch in seiner jüngsten Übersetzungs-Tat, der Übertragung zweier futuristischer Frühwerke von Wladimir Majakowski. Nicht weniger als eine kongeniale Mimesis der "gänzlich neuartigen Reimtechnik" Majakowskis hat sich Nitzberg vorgenommen, nebst der überfälligen Revision der "zahlreichen Missverständnisse und Bezugsfehler", die nach Nitzbergs Ansicht in den bislang existierenden Übertragungen zu finden sind. Tatsächlich gibt es in Sachen Majakowski einen markanten Revisions-Bedarf, basiert doch das Bild des Dichters noch immer auf den Vermittlungsbemühungen des österreichischen Essayisten Hugo Huppert, der den Lebensweg Majakowskis als glücklichen Reifungsprozess vom verworrenen futuristischen Feuerkopf zum klassischen Revolutionär idyllisierte.

Den bilderhungrigen Avantgardisten aus der georgischen Provinz, der schon unter Stalin zur Ikone des autoritären Sowjetkommunismus umfunktioniert wurde, will nun Nitzberg gegen alle ideologischen Vereinnahmungen als virtuosen Sprachartisten retten. Tatsächlich fallen die ersten Werke des tragischen Dichters - die Verstragödie Wladimir Majakowski und das lange Poem Wolke in Hosen, die Nitzberg nun in neuer Übersetzung vorlegt - noch in die Jahre 1913 bis 1915, da sich Majakowski mit allen Mitteln der exzentrischen Selbstinszenierung in die Spektakel des russischen Futurismus stürzte. Der zwanzigjährige Dichter agierte damals als hochbegabter lyrischer Bürgerschreck, der in seinen Gedichten die Multiperspektivität der kubistischen Malerei in eine bizarre Metaphorik übersetzte. Sein erstes poetisches Lebenszeichen war im Mai 1913 die Veröffentlichung des vierteiligen Poems Ich!, das wegen seines hochfahrenden Gestus so manchen literarischen Zeitgenossen zu einem drastischen Urteil veranlasste. "Vorsicht! Da brüllt ein Menschenfresser!" , urteilte etwa Alexey Krutschonych, und Marina Zwetajewa mokierte sich über den Ich-Exhibitionismus des jungen Kollegen. Auch Wolke in Hosen beginnt mit einer Hypostasierung des Ich, das als enttäuschter Liebhaber der verlorenen Geliebten hinterher trauert, aber die Trauer in eine heftige Anklage gegen alle religiösen, ästhetischen und politischen Normen ummünzt. Der Verzweiflungsschrei nach Liebe fraternisiert in den insgesamt vier Teilen des Poems mit dem typisch avantgardistischen Gestus des Bildersturms. Ein erklärter "Schreihals-Zarathustra" räumt auf mit der traditionellen Kunst und Poesie.

Im furiosen Schlusskapitel von Wolke in Hosen inszeniert das liebesnärrische und rauschbereite Ich den Angriff auf Gott. Es ist schon erstaunlich, dass dieses ketzerische Evangelium eines Rebellen, dieses stilistische Wechselbad aus überhitztem Expressionismus, larmoyantem Liebes-Pathos, blasphemischem Wutschrei und alltagssprachlicher Derbheit, auch noch fast hundert Jahre nach seiner Niederschrift seine poetische Frische bewahrt hat. Dass die poetische Hass-Energie und die ästhetische Virtuosität des frühen Majakowski uns auch heute noch erreichen, ist ein unzweifelhaftes Verdienst der Nitzberg-Übersetzung. Tatsächlich gelingt es dem Übersetzer, für die von ihm präzis analysierte Reimtechnik Majakowskis mit ihren vielfach verschlungenen Binnenreimen und Assonanzen sehr dynamische und bildkräftige Entsprechungen zu finden. An einigen Stellen führt die Artifizialität der Reim-Übertragung aber zu manieristisch verschwitzten Nachbildungen. Majakowskis lyrische Antizipation der großen politischen Umwälzung von 1917 liest sich in einer früheren Übertragung von Alfred Edgar Thoß poetisch schlüssig: "Ich, das Gespött der Menschheit von heut, / lang und scharf wie ein schlüpfriges Lied, / ich sehe jenseits des Gebirges der Zeit, / einen Schreitenden, den niemand sieht. / Wo die stumpfen Blicke der Generationen / an den Häuptlingen hungriger Horden verlechzen, / geht, geschmückt mit dem Dornenkranz der Revolutionen, / das Jahr neunzehnhundertsechzehn." In seinem Verlangen nach eigensinniger Reimkunst hat Nitzberg die gleiche Stelle in ein recht preziöses Deutsch transferiert, wobei klanglich reizvolle und metaphorisch sehr taube Partien miteinander kollidieren: "Ich, / umgreint von Menschensippen, / ein langer / obszöner Witz, / nehme selbst über zeitliche Klippen / von dem, was da kommt, Notiz. / Denn fern, wo die Augen schlecht sehn, / da schreitet im Dornenkranz / das Jahr neunzehnhundertsechzehn, / als Haupt eines hungernden Aufstands." Hier bewährt sich der Übersetzer Nitzberg zwar als jener "Rastelli der Reimkunst", auf den Peter Rühmkorf schon so manche Eloge gesungen hat. In seinem Anspruch auf lyrische Kongenialität riskiert der Übersetzer aber viele waghalsige Fügungen, die - wie das ungelenke "umgreint von Menschensippen" oder die Wahl des Diminutivs im Poem-Titel Wölkchen in Hosen - nur dem übersetzerischen Überbietungszwang geschuldet sind, nicht aber der Poesie.


Für Quereinsteiger: Zur Hauptseite von Urs Engeler Editor